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Hitchcock #023: Jamaica Inn (1939), oder: Charles Laughton, der alte Pirat

Wie ein römischer Kaiser wird Sir Humphrey von Charles Laughton gespielt. Und wie ein römischer Kaiser hat sich Laughton, Hitchcock zufolge, auch beim Dreh benommen...

"Während ich The Lady Vanishes drehte, bekam ich ein Telegramm von Selznick, der mir anbot, nach Hollywood zu kommen und einen Film zu drehen über den Untergang der Titanic. [...] Da aber mein Kontrakt mit Selznick erst im April 1939 anfing, hatte ich noch die Möglichkeit, einen letzten englischen Film zu drehen, Jamaica Inn" (Truffaut 110).

Jamaica Inn ist ein ungewöhnlicher Hitchcock-Film. Nicht nur, weil er nach den sechs Thrillern (von 1934-38) plötzlich ein Historienfilm ist; nicht nur, weil er der letzte britische Film Hitchcocks für viele Jahrzehnte sein würde; sondern auch, weil er Spuren einer Auseinandersetzung mit Hauptdarsteller und Ko-Produzent Charles Laughton trägt. "Hitchcock could not function with dominant stars like Laughton," urteilt Dan Callahan (2020: 93) und liegt damit richtig. 

Laughton vs. Hitchcock

Laughton, gerade mal sechs Wochen älter als Hitchcock, hatte fünf Jahre zuvor den Oscar als Bester Hauptdarsteller für seine Rolle in Alexander Kordas The Private Life of Henry VIII gewonnen und zudem mit zahllosen berühmten Regisseuren zusammengearbeitet, wie etwa Frank Lloyd (Mutiny on the Bounty), Wilhelm Dieterle (The Hunchback of Notre Dame), Ernst Lubitsch (If I had a Million), Cecil B. DeMille (The Sign of the Cross) und E.A. Dupont (Piccadilly). 

Keine Frage, Laughton gehörte schon damals zu den ganz Großen im Geschäft (und ich glaube, dass sich Callahan irrt, wenn er behauptet, dass Laughton um 1938 schon ein wenig ans Ende seiner Fähigkeiten gelangt gewesen sei: "he was coming to the end of his rope a bit" [90]). Denn später in Laughtons Leben sollten Rollen in den Filmen vieler weiterer berühmter Regisseure folgen, darunter Stanley Kubrick, Billy Wilder, David Lean, Robert Siodmak und Jean Renoir. Auch in seiner einzigen Regiearbeit, The Night of the Hunter (1955), brillierte Laughton. Von Erschöpfung oder dem Ende künstlerischer Kraft keine Spur.

Hitchcock (rechts) schaut nicht gerade begeistert rüber zu Laughton (links) (Bildquelle: Wikipedia)

Hier, in Jamaica Inn, trifft ebenjener Superstar Laughton auf einen ebenso großen und ebenso starrsinnigen Regisseur, Alfred Hitchcock. Und der sagte über Laughton: "Eigentlich verstand er nichts vom Film" (Truffaut 112); und später: "Charlie Laughton was a problem [...], I used to say the hardest things to photograph are dogs, babies, motorboats, and Charlie Laughton" (qtd. in Calahan 90). 

Hitchcock mochte die Zusammenarbeit mit Laughton also nicht, zumal Laughton wohl ursprünglich als Piraten-Onkel vorgesehen gewesen war, dann jedoch darauf bestand, die Rolle des intriganten und wahnsinnigen Friedensrichters zu erhalten, des Schurken also. Das machte Änderungen am Drehbuch nötig, das Hitchcock zusehends missfiel. Truffaut gegenüber sagte er: "Jamaica Inn war ein völlig absurdes Unternehmen" (Truffaut 110), womit er meinte, dass es sich formal um einen Whodunit handelte, bei dem aber der Täter, nun gespielt vom Star des Films, Laughton, sich schon in seiner zweiten Szene als Schurke zu erkennen gibt. Das erzeuge zwar Suspense (was Hitchcock liebte), aber sei, so der Regisseur, dem Genre des Whodunit abträglich gewesen: "Als ich das merkte, war ich richtig verzweifelt," fährt Hitchcock fort. "Schließlich habe ich den Film doch gedreht, aber zufrieden bin ich nie mit ihm gewesen, trotz des unerwarteten kommerziellen Erfolgs" (Truffaut 111). 

Laughton vs alle anderen...

Laughton ist eine derartige Präsenz im Film, dass es selbst beim aufmerksamen Schauen kaum auffällt, dass hier auch ein paar andere bekannte Gesichter mitspielen. Leslie Banks spielt den mürrischen Piraten-Onkel Joss – er war schon in The Man Who Knew Too Much zu sehen (siehe meinen Artikel dazu), ist hier aber nicht wiederzuerkennen. Ebenso spielt Basil Radford mit, den wir in The Lady Vanishes noch als Cricket liebenden Charters gesehen hatten oder als Onkel der jungen Erica in Young and Innocent (zumindest sagt mir IMDB, dass er dabei war, erkannt habe ich ihn nicht...). Auch George Curzon, der Schurke aus Young and Innocent spielt einen Kapitän (was mir ebenfalls entgangen ist). Wylie Watson, der als Mr Memory in The 39 Steps begeistern konnte, spielt hier in einer Nebenrolle in der Gang (ja, ist mir auch entgangen). Es liegt zum Teil an den Kostümen, dass diese bekannten Gesichter nicht zu erkennen sind. Zum Teil aber eben auch daran, dass Laughton sehr viel (zu viel?) Raum in Jamaica Inn einnimmt.

Es ist übrigens der letzte Film, in dem Hitchcock keinen Cameo-Auftritt hatte (es sei denn, er ist genauso bis zur Unkenntlichkeit geschminkt und verkleidet worden, wie viele der genannten Schauspieler).

Mary (Maureen O'Hara) rettet das Schiff, indem sie das Leuchtfeuer wieder entzündet und dabei ihr eigenes Leben riskiert

Einzig Maureen O'Hara kann in der weiblichen Hauptrolle Laughton mühelos das Wasser reichen. Ihre Mary ist vielseitig: Erschrocken in der einen, mutig entschlossen in der nächsten Sekunde. Eine Frau, die sich als tapferer und umsichtiger erweist, als die Männer des Films. Es gibt Szenen im Film, da erinnert ihr Spiel an die späteren Hitchcock-Filme mit Ingrid Bergman. Kühl und doch unerschrocken. Eine beeindruckende Darbietung.

Jamaica Inn: Vergessen von Publikum und Kritik gleichermaßen

Der kommerzielle Erfolg spiegelt sich nicht in seinem kritischen Nachleben wieder. Denn Jamaica Inn fristet in der Hitchcock-Forschung ein Nischendasein. Nur wenige bringen dem Film ein gewisses Interesse entgegen. Exemplarisch für das mangelnde Interesse an Jamaica Inn sei das von Thomas Leitch und Leland Poague herausgegebene Buch A Companion to Alfred Hitchcock genannt, das den Film auf knapp 600 Seiten nur drei Mal erwähnt, und auch nur im Vorbeigehen, oder um festzustellen, wie marginalisiert der Film in der Forschung ist (2011: 8). 

Die Flucht von Mary und Jem über das offene Meer ist ein Sinnbild für die Rezeption des Films: Im Meer der (Hitchcock-)Filme geht er buchstäblich unter

Und wenn der Blick der Kritik einmal auf Jamaica Inn fällt, dann oft nur, um den "Widerspruch divergierender  Interessen" zu konstatieren, die zwischen Laughton und Hitchcock bestehen (Jacobsen 299). 

Aber wie immer in solchen Fällen hat der Film natürlich auch seine Anhänger und Apologeten: Alexander Kluy zum Beispiel hält gleich zu Beginn seiner Hitchcock-Einführung fest, dass der Film zwar "einer seiner weniger bekannten" sei, fügt dann aber an: "zu Unrecht übrigens" (2).

Inhaltsangabe von Hitchcocks Jamaica Inn

Im Jahr 1819 steht an der Küste Cornwalls ein Gasthaus, das titelgebende "Jamaica Inn". Darin lebt Joss (Leslie Banks), Anführer einer ruchlosen Piratenbande (der im Deutschen titelgebenden Bande der Riff-Piraten), die nachts falsche Leuchtfeuer setzt, um Schiffe zum Kentern zu bringen und dann auszurauben. 

Der schiffbrüchige Matrose (rechts) glaubt sich gerettet, da erblickt er den Riff-Piraten (links), der ihn erstechen wird

Von dem örtlichen Friedensrichter Sir Humphrey Pengallan (Laughton) erfährt Joss immer rechtzeitig, wann reich beladene Schiffe an der Küste entlangfahren. 

Die Bande geifernder Riff-Piraten lauert auf das nächste Opfer

Eines Abends kommt die frisch verwaiste Mary (großartig: Maureen O’Hara) aus Irland zu ihrem Onkel Joss und ihrer Tante Mildred (Marie Ney), um bei ihnen zu leben. Gleich in ihrer ersten Nacht, wird sie Zeugin, wie einer aus der Bande, ein Mann namens Jem (blass: Robert Newton) gehängt wird. Heimlich schneidet sie das Seil durch und rettet Jem damit das Leben. Gemeinsam flüchten sie zu Pengallan. Als dieser erfährt, dass Jem Trehearne für die Polizei arbeitet, lockt er den ahnungslosen Jem zurück ins Inn, wo er ihn gefesselt zurücklässt. 

Mary rettet Jem vor dem Tod durch Erhängen

In einer dichten Sequenz an Szenen, gelingt es Mary erst, das Leuchtfeuer wiederzuentzünden und so ein nahendes Schiff vor dem Untergang zu retten; dann wird Joss von der Bande erschossen und Mildred von Pengallan; Jem entkommt und kehrt mit Soldaten zurück; Pengallan entführt Mary, um sie zur Ehe zu zwingen und will mit ihr nach Frankreich reisen; das Schiff wird von den Soldaten aufgehalten und Pengallan, der inzwischen dem Wahnsinn verfallen ist, springt in theatralischer Geste vom Mast des Schiffs in den Tod. Der Film endet mit einer Nahaufnahme des Gesichts des entsetzten Butlers von Pengallan. 

Bindungen kappen

Es wird viel gefesselt und geknebelt in Hitchcocks Jamaica Inn. Das ist ein zentrales Motiv, da alle Figuren durch (un)sichtbare Bande aneinandergekettet sind. Mildred durch die Liebe an ihren verbrecherischen Mann Joss. Der durch seine Armut an den reichen Pengallan. Mary an ihre Familie. Jem an seine Loyalität der Krone gegenüber. 

Diese Bande sind oft lebensgefährlich. Einmal wird das Seil nicht zum Fesseln verwendet, sondern als Strick, an dem Jem aufgehängt wird. Symbolisch schneidet Mary ihn heimlich los und kappt damit die Fesseln, die ihn an die Bande binden: Ab sofort darf er sich als Ermittler und Spion zu erkennen geben. 

Jem gefesselt, Pengallan zum Schein gefesselt: Das einzige Bild aus dem Film, das in der Taschenbuchausgabe von Truffauts Buch abgedruckt war

Ein anderes Mal sind die Fesseln Teil von Pengallans Charade: Er und Jem werden von Joss gefesselt und kaum ist dieser aus dem Haus, löst Pengallan seine Fesseln mit einer Leichtigkeit, die klarmacht, dass die Stricke nur Dekoration waren.  Es ist in meiner Taschenbuchausgabe von Truffauts Hitchcock-Buch das einzige abgedruckte Bild aus Jamaica Inn und hat sich mir (und vielen anderen Leser*innen darum sicherlich auch) stark eingeprägt. 

Pengallan (Laughton) empfängt Mary (O'Hara) neben der Büste des römischen Kaisers Commodus (vgl. diese Büsten), der wie auch Nero und Caligula als Monster auf dem Thron galt

Mary wird mit Gewalt an Pengallan gebunden und von diesem geknebelt. Doch als sie frei ist, ruft sie den Soldaten zu, nicht auf Pengallan zu schießen, da der Wahnsinn dessen Verstand gefesselt habe (was der Film bereits in der ersten Szene andeutet, wenn Laughton unter der Büste des Commodus steht, und einem römischen Kaiser gleich ein Pferd durch den Speisesaal führen lässt); von den Fesseln befreit, bindet sie sich somit gewissermaßen dennoch an diesen Mann. 

Schlusseinstellung des Films: Der Butler ist frei und darum buchstäblich am Ende...

Die letzte Einstellung zeigt, wie gesagt, den ungläubig dreinblickenden Butler des toten Pengallan: Er ist durch den Tod seines Herren frei, nicht mehr an diesen gebunden; und gleichzeitig ist das der Beginn seiner Unfreiheit, denn was soll der alte Mann nun tun, dessen Familie seit Generationen nichts kannte, als an die Familie der Pengallans gebunden zu sein? Ist die Fessel nicht besser, scheint sein Gesicht zu sagen? Der Film spielt 1819 und Marx und Engels werden erst 29 Jahre später darauf hinweisen, dass die "Proletarier nichts zu verlieren [haben] als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen" (MEW Bd. 4: 493). Der Butler in Jamaica Inn weiß davon noch nichts...

Jamaica Inn ist ein Film über Bindungen, zumeist unfreiwillige, und die Notwendigkeit, sich von diesen Bindungen zu befreien, auch wenn es Schmerzen bereitet. 

Hitchcocks Kamera geht in die voyeuristische Nahaufnahme, wenn Pengallan Mary fesselt und knebelt

Und ja, natürlich haben Fesseln in Hitchcocks Filmen immer auch eine erotische Komponente, wie er im Gespräch mit Truffaut über The Lodger zugab: "[Handschellen] haben auch noch eine latente sexuelle Bedeutung. Als ich einmal das Musée du Vice in Paris besuchte [...], ist mir der Zusammenhang zwischen sexueller Anomalie und Zwang, Fesselung aufgefallen" (Truffaut 42). Das wird in Jamaica Inn deutlich, wenn Pengallan am Ende Mary fesselt und knebelt. Für Callahan ist diese Szene sogar die einzige im Film, in der sich Hitchcock gegen Laughton zu behaupten weiß: "There is a scene toward the end of Jamaica Inn where Hitchcock does assert himself, and it is extremely unpleasant. Sir Humphrey [...] talks softly to her [Mary] as he ties her hands and gags her and puts a cloak over her head so that she looks like a tied-up and gagged Virgin Mary, and there is a gratuitously nasty shot of the gag going into O'Hara's mouth in close-up" (Callahan 92). 

Die sexuelle Gewalt kann dieser Film von 1939 nur andeuten; in Einstellungen wie dieser wird sie jedoch überdeutlich

Die erotische Konnotation, dass Pengallan ihr genussvoll etwas in den Mund schiebt und Hitchcock dabei voyeuristisch in die Nahaufnahme geht, ist nicht zu übersehen. Wenn Laughtons Figur die Schulter der Frau packt, wissen wir, dass er eigentlich einen anderen Teil ihres Körpers begrabscht, nun da sie ihm, gefesselt, ausgeliefert ist. Erneut präsentiert uns Hitchcock: Fesselspiele.

Jamaica Inn: Was ist das für ein Genre?

Das ist alles ist kein guter Film; aber er macht seine Schwächen zum Teil wett durch seine Stimmung. "Hitchcock's Regency gothic drama Jamaica Inn," nannte Richard Allen Jamaica Inn (2007: 143) und trifft es damit ganz gut. Der Film wirkt in der Tat stellenweise so, als hätte Hitchcock vor den Dreharbeiten noch einmal die Brontës gelesen. Da ist viel Sturmhöhe, Gebrause in den Bäumen sowie die Rohheit menschlicher Nähe auf engem Raum. Es regnet ständig, dauernd ist Nacht – in der Welt, aber auch in den Menschen, die der Film uns präsentiert. Wenn Mary nachts allein durch Cornwall läuft, spürt man Jane Eyre, verstoßen aus Thornfield Hall. Wenn die Männer, die sie empfangen, allesamt betrunken sind, trägt Marys Gesicht eine Spur des Abscheus aus Tenant of Wildfell Hall. Ja, der Film ist düster und bedrückend, Vieles "geht auf den viktorianischen Schauerroman zurück" (Jacobs 2013: 113). 

Die schiefen Bauten erinnern teils an den viktorianischen Schauerroman, teils an das Weimarer Kino, an Caligari und Nosferatu

Andere Elemente des Films scheinen einmal mehr an den deutschen Expressionismus zu erinnern: Die schrägen Bauten ("dämonische Häuser" nennt Jacobs sie [115]), die schwindelerregenden Treppen, das Spiel von Licht und Schatten ("Lichtführung, Hell-Dunkel-Kontraste" wie Kluy sagt [2]) und das Fehlen von Filmmusik ("Nur Geräusche", so Kluy [28]). Die Bildsprache ist überbordend, ja "baroque," wie Rohmer und Chabrol es nennen (56). Wäre nur die Bildschirmzeit von Charles Laughton nicht ebenfalls so überbordend gewesen, Hitchcock hätte tatsächlich einen gothic film gedreht.

Einer von zahlreichen dutch angles in Jamaica Inn: Auch die Bildsprache erinnert oft an das expressionistische Kino der Weimarer Republik

Ein Kostümfilm also. Einer mit Elementen des Schauerromans, gothic. Einer von barocker Opulenz. Und mit einer Prise Whodunit, so Hitchcock, auch wenn das auf Grund der bereits geschilderten Schwierigkeiten im Film ein wenig untergeht. Auch andere Genre-Vergleiche wurden gezogen und Charles Barr verglich Jamaica Inn gar mit einem John Ford-Western: "Ford became identified with the Western; Hitchcock never made a Western, nor could one imagine him doing so. The closest he got was Jamaica Inn (1939), his last film before moving to Hollywood" (Barr 204). Es ist die Atmosphäre der Gesetzlosigkeit, die Barr diese Parallele ziehen lässt ("set in the lawless Cornwall of around 1820" [204]). Und ja, es werden viele altmodische (Theater-)Revolver geschwenkt und die Schiffe Cornwalls sind die Postkutschen des Wilden Westens. Der Sheriff ist von der Krone ernannt, aber ebenso auf sich gestellt, wie Sheriff Kane in Fred Zinnemanns High Noon (1952). Tatsächlich, Jamaica Inn ist ein wenig ein Western-Film von Alfred Hitchcock.

Pengallan springt vom Mast des Schiffs in den Tod, wie schon der Schurke in Hitchcocks Murder! (siehe meinen Artikel dazu) Die Menge tut was sie immer tut, sie glotzt

Und natürlich darf die gehörige Prise Melodrama nicht fehlen. Das Melodrama scheut das Schrille, Grelle, Übertriebene nicht. Und so ist die finale Szene, in der sich der überführte Pengallan in den Tod stürzt, keine, die auf Grund ihres "Realismus" in Erinnerung bleibt, sondern auf Grund der melodramatischen Überspitzung. Pengallan ist buchstäblich auf die Spitze getrieben – und von dort gibt es nur noch einen Ausweg für ihn, der Sprung in den Tod.

Fazit

"Finally the money-obsessed Sir Humphrey jumps from the top of a ship, putting himself, Laughton, Hitchcock, and the audience out of its misery" (Callahan 92). Dieses Urteil, das der Kritiker auf Grundlage von Laughtons bemerkenswerter, aber inkohärenter und daher unüberzeugender Darbietung, trifft, ist in seiner Schärfe fraglos übertrieben. Man spürt sehr deutlich, dass Laughton nicht immer weiß, wohin mit sich. Man ist auch mal wieder bei einem Hitchcock-Film ein wenig gelangweilt von dem blassen männlichen Helden (Robert Newton), und man riecht den Muff der Theaterkiste, aus der die Kostüme der Piraten und Soldaten zu kommen scheinen. Aber dennoch ist die Stimmung herrlich düster und schaurig.

Und genau diese düstere Stimmung hebt Jamaica Inn auch positiv von anderen Kostümfilmen Hitchcocks ab, wie etwa Waltzes from Vienna (siehe meinen Artikel dazu), in dem alles lichter Tag war und selbst das brennende Haus zu Beginn nur Heiterkeit erregt (beim Publikum ebenso wie bei den Filmfiguren, die den Brand als gute Gelegenheit für Bussi Bussi nutzen). Der Walzer des einen Films gab dem Hauptdarsteller des anderen übrigens laut Hitchcocks Aussage Truffaut gegenüber den richtigen Takt für die Bewegung der Figur (method acting treibt zuweilen bunte Blüten). 

Die falschen Augenbrauen von Laughton sind lächerlich

Die Kostüme, wie schon gesagt, riechen zu sehr nach Theaterfundus. Laughtons Augenbrauen und Nase sind zu offensichtlich künstlich. All das sind uninteressante oder lächerliche Bilder, die die guten  und düsteren überlagern. Wenn nichts mehr von der sturmumtosten Küste Cornwalls in Erinnerung bleibt, so erinnert man sich doch noch an die zwei Riesenraupen, die man Laughton als Augenbrauen appliziert hat. All das ist ein wenig lächerlich. Und all das ist wiederum ein wenig bedauerlich. Denn ohne diese Exzentrik könnte Jamaica Inn tatsächlich ein sehr guter Film sein. 

So wie die Sache steht, ist er mit 6 Messern mehr als großzügig bewertet. Dennoch ein Film, der fraglos unterschätzt wird und für den ich mir mehr Aufmerksamkeit in der Forschung wünschen würde. Und sicher auch mehr vom allgemeinen Publikum. Denn es bleibt ein interessanter Film, der mit eindrucksvollen Bildern und zwei sehr guten Schauspieler*innen (Laughton und O'Hara) zu unterhalten weiß. Also, eine eingeschränkte Empfehlung gebe ich dem Film doch. 

Works Cited (alphabetisch sortiert)

Films Mentioned (chronologisch sortiert)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Hitchcocks Jamaica Inn (1939), oder: Charles Laughton, der alte Pirat." Hitchcock: Rewatch 2022, 14.09.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/09/jamaica-inn-charles-laughton-pirat.html.

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