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Hitchcock #016: Waltzes from Vienna (1933), oder: Heimatfilm avant la lettre

Hitchcocks Waltzes from Vienna: Heimatfilmkitsch vom Feinsten

Ich gebe es zu: Ich habe mich vor diesem Film gefürchtet. Er ist einer der wenigen Hitchcock-Filme, die ich noch nicht kannte (in chronologischer Reihenfolge auch gleichzeitig der letzte, den ich nicht kannte) und sein Ruf ist, der schlechteste aller Hitchcock-Filme zu sein. 

Nun, ich muss sagen, dass ich ihn einigermaßen gern gesehen habe. Nicht so sehr, weil es ein guter Film ist. Aber ich habe eine persönliche Vorliebe für Heimatfilme (und Hitchcocks Waltzes from Vienna ist im Grunde ein Heimatfilm mit viel Musik) und zudem war ich auch neugierig zu sehen, wie Hitchcock sich diesem für ihn so untypischen Genre nähern würde. Da ist natürlich viel Unfug drin. Aber eben auch eine Menge Hitchcock. Und das sorgt dafür, dass der Film in einem vergnüglich schnellen 3/4-Takt vor den Augen vorbeitanzt. Man will nicht unbedingt mittanzen, aber es ist bei Weitem nicht so schlimm wie Juno and the Paycock.

Kulissen mit hohen Decken, häufig in der Totale und mit klarem symmetrischen Aufbau gefilmt

Ein Walzer-Film. Über Johann Strauss, Sohn, der nur zwei Monate vor der Geburt eines gewissen Alfred Hitchcock stirbt. In ironischem Ton spekuliert Alexander Horwath über eine mögliche Seelenwanderung der beiden (274). Denn tatsächlich scheint Hitch trotz aller gegenteiligen Bekundungen durchaus ein Händchen für den Walzer zu haben. Das sieht er selbst nicht so, aber ich hatte ja schon mehrfach darüber geschrieben, dass Hitchcock zwar ein meisterhafter Regisseur, aber ein eher lausiger Filmkritiker war (insbesondere, wenn es um seine eigenen Filme ging). Zu diesem Film menetekelte er Truffaut gegenüber: "Ich habe mir nie gesagt: Mit dir ist es aus, deine Karriere geht bergab. Und doch, von außen gesehen, für die anderen, war es das" (Truffaut 74). Diese Meinung wird, wie gesagt, von der Kritik oft geteilt. Donald Spoto etwa schreibt, die Qualität von Waltzes from Vienna "justified Hitchcock's later statement that this was the lowest ebb in his career" (Spoto, n.pag.)

Inhaltsangabe von Hitchcocks Waltzes from Vienna (1933)

Johann Strauss Vater (Edmund Gwenn mal wieder, den wir zuletzt hervorragend in The Skin Game sahen) nimmt seinen Sohn, Johann Strauss Sohn (Esmond Knight), nicht richtig für voll und schickt ihn nicht, wie die anderen Söhne, zum Studium nach Berlin zu Meyerbeer, sondern lässt ihn die sprichwörtliche zweite Geige im Orchester spielen. Die Musik von Junior Strauss begeistert Resi Ebeseder (Jessie Matthews) und die Resi begeistert im Gegenzug den jungen Komponisten. 

Die Gräfin (links) hält (um) die Hand (an) von Johann Strauss Sohn (rechts), während die eifersüchtige Resi (Mitte) das Nachsehen hat

Als die Gräfin Helga von Stahl (Fay Compton mit anstrengend vielen Theater-Gesten) dem jungen Komponisten eine Perspektive eröffnet, nimmt dieser dankend an und es kommt zum unvermeidlichen Eifersuchtsdrama. Die Gräfin schreibt den Text zum Walzer "An der schönen blauen Donau" (rein fiktiv, die verschiedenen Textfassungen stammen von anderen Personen) und er widmet ihr das Stück daraufhin. Um seine geliebte Resi nicht zu erzürnen, schenkt er ihr eine Kopie mit eigener Widmung für sie. Natürlich fliegt das Ganze auf und Resi ist eifersüchtig.

Am Ende des Films unterschreibt der bis dato einzig wahre Johann Strauss mit dem Zusatz "Senior" und erkannt damit seinen Sohn als Nachfolger an

Strauss Vater macht sich über die musikalischen Versuche vom Filius lustig und weigert sich, seine Werke aufzuführen. Beim großen Finale, einem Ball, ist der Vater ein paar Minuten zu spät und Strauss Sohn nimmt, von der Gräfin ermutigt, den Platz am Dirigentenpult ein und lässt das Orchester seinen Walzer spielen. Das Publikum ist begeistert und schreit nach mehr. Resi und Strauss lieben sich und der Vater, in der Schlusseinstellung, stellt erstmalig ein Autogramm als "Johann Strauss Senior" aus. Ende. 

Ja, da ist viel Heimatfilmkitsch, mit den üblichen Freiheiten des Historienfilms versehen. Die meisten Figuren sind frei erfunden. Die Ehen von Johann Strauss Sohn (ja, Plural) waren andere. Die Gräfin gab es nicht und sie schrieb folglich auch nie den Text zu Strauss' berühmtesten Walzer. Was bleibt ist ein Lustspiel, das ganz putzig ist, aber ohne große Höhen. 

Fazit

Es gibt ein wundervolles und erschreckend virtuoses Musikstück von Ravel: La Valse. Man hört, wie drinnen getanzt wird als gäbe es kein Morgen, während draußen die Kanonen schießen, als gelte es, eben jenes Morgen endgültig zu zerstören. Drinnen wird im 3/4-Takt gewalzt, draußen walzen die Panzer durch die Straßen. Diese Nähe von Vergnügen und Tod, von Kultur und Krieg ist, mit Blick auf das Produktionsjahr von Waltzes from Vienna, eine, an die heutige Zuschauer*innen durchaus auch denken könnten. Ein Film, der eine ziemlich intakte Heimat beschwört, während 1933 die Nazis sich anschicken, diese Heimat und mit ihr die ganze Welt ins Unheil zu stürzen. Gefilmt von einem Regisseur, der dafür bekannt ist, Abgründiges zu filmen und der später mit Filmen wie Foreign Correspondent, Lifeboat, aber auch mit seiner KZ-Doku Night Will Fall die Gräuel des Krieges beleuchten würde. Des Krieges, der im Jahr dieses Films, 1933, gerade am Horizont aufzieht. 

Apropos 3/4-Takt: Der Film ist voll von Dreier-Arrangements. Hier Johann Strauss Sohn (links), die Gräfin von Stahl (rechts) und in der Mitte, genau zwischen ihnen, ein mehrarmiger Leuchter

Das alles ist in dieser Heimatfilm-Komödie nicht enthalten. Es ist durch das Freud'sche Konzept der Nachträglichkeit aber durchaus in diesen Film hineinzulesen, was ihm eine leicht gespenstische Aura verleiht. Kathleen Loock schreibt in einem Aufsatz über (Hitchcock-)Remakes: "Nachträglichkeit describes how a later event prompts the retroactive attribution of meaning to an earlier event, its belated understanding or even revision" (83). Der Krieg, der sechs Jahre später ausbrechen würde, lässt Hitchcocks Heimat-Kitsch rückblickend in einem anderen Licht erscheinen, der Krieg gibt Waltzes from Vienna nachträglich eine neue Bedeutung.

Hitch hatte die Darstellerin der Gräfin, Fay Compton, 1925 in London auf der Bühne gesehen. In Mary Rose von J.M. Barrie (dem Autor von Peter Pan). Das Stück, das ihn sein Leben lang beschäftigen würde und das er immer verfilmen wollte. Und ja, Compton wirkt sehr theaterhaft in ihrer Darstellung, sie riecht stark nach Bühne. Das tut dem Film nicht immer gut. Der Rest des Ensembles ist hingegen sehr munter und oftmals sogar überzeugend in den Rollen, wenngleich Jesse Matthews als Resi wirklich nicht überzeugen kann. Gene Adair merkt an, dass Hitchcock "and the female lead, Jesse Matthews (then a major British singer and star), found that they thoroughly disliked each other" (45) und man merkt das stellenweise ein wenig. Sie wirkt immer, als habe sie sich gerade furchtbar über etwas geärgert (und das ist nicht immer nur ihr Verdacht, dass ihr Johann mit der Gräfin anbändeln könnte)....

Im Finale darf Johann Strauss Sohn doch die Blaue Donau dirigieren (auch wenn Esmond Knight sichtbar keine Ahnung vom Dirigieren hat)

Meist sind wir versucht, in Hitchcocks frühen Filmen Spuren späterer Reife zu entdecken. Das wird hier kaum gelingen. Zu eigen der Weg, den Waltzes from Vienna beschreitet. Auch Rückbezüge zu früheren Werken sind nur wenige zu erkennen. Immerhin war Hitchcock mit diesem Film eben erst aus seinem Vertrag mit British International Pictures ausgestiegen und seine erfolgreichste britische Phase, erneut mit Michael Balcon für Gaumont British Picture Corporation, würde erst mit seinem nächsten Film, The Man Who Knew Too Much beginnen. 

3 Messer, vielleicht etwas hochgegriffen, aber der Film ist besser als sein Ruf

Waltzes from Vienna hat aber auch keine Scharnierfunktion zwischen den vorwiegend unbefriedigenden BIP-Filmen und den Gaumont-Meisterwerken der 1930er.  "Es hatte überhaupt nichts mit meiner sonstigen Arbeit zu tun," sagt Hitchcock (Truffaut 74). Er bleibt eine kuriose Fußnote im Schaffen des Meisters des Suspense. Aber eine gute kuriose Fußnote. Hätte Hitchcock nicht ein Jahr später sein Genre gefunden, dann wäre er fraglos ein passabler Heimatfilm- oder Musikfilm-Regisseur geworden. Wer weiß, wie die Filmgeschichte verlaufen wäre, wenn Hitch weitergetanzt hätte.

Verantwortlich für das musikalische Arrangement ist niemand Geringeres als der große Erich Wolfgang Korngold (einer meiner Lieblingskomponisten im 20. Jahrhundert)

Films Cited/Mentioned (in chronologischer Reihenfolge)

  • Juno and the Paycock (dir. Alfred Hitchcock) (19)
  • The Skin Game (dir. Alfred Hitchcock) (19)
  • Waltzes from Vienna (dir. Alfred Hitchcock) (1933)
  • The Man Who Knew Too Much (dir. Alfred Hitchcock) (19)
  • Foreign Correspondent (dir. Alfred Hitchcock) (19)
  • Lifeboat (dir. Alfred Hitchcock) (19)
  • Night Will Fall (dir. Alfred Hitchcock) (19)

Works Cited (alphabetische Reihenfolge)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

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Kronshage, Eike. "Hitchcocks Waltzes from Vienna (1933), oder: Heimatfilm avant la lettre.Hitchcock: Rewatch 2022, 06.07.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/07/hitchcock-waltzes-from-vienna-heimatfilm.html.

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