Fanes Trapez-Akt in Frauenkleidern: Der buchstäbliche Tanz auf dem Drahtseil |
"Hitchcock's inventiveness, subtlety, and profundity in Murder! was as great as his boredom had been in Juno," schreiben Eric Rohmer und Claude Chabrol in ihrem Buch Hitchcock: The First 44 Films. Das lässt hoffen, dass nach dem bislang schlechtesten Hitchcock-Film, Juno and the Paycock, nun wieder ein guter kommt.
Meine Erinnerungen an Murder! waren vage, ich hatte ihn vor sehr langer Zeit, vermutlich als Teenager zum ersten und einzigen Mal gesehen (vermutlich sogar in der Fassung mit deutschen Schauspieler*innen, Mary). Da das Vergehen meiner illegal angefertigten VHS-Kopien aus den frühen 90ern verjährt ist, kann ich auch gestehen, dass ich mich erinnere, den Film aus der Stadtbücherei ausgeliehen und kopiert zu haben. Warum ich ihn dann jedoch, anders als die anderen Hitchcock-Filme, kein weiteres Mal aus meinem VHS-Kassetten-Regal gezogen und angesehen habe, weiß ich nicht, denn er ist in der Tat ein ordentlicher Film, dessen Klugheit sehr überrascht.
Der Tatort: Die erste Szene ist unglaublich dicht |
Für Hitch untypisch handelt es sich bei Murder! um Hitchcocks ersten Whodunit (davon gibt es in seinem gesamten Werk nur wenige, etwa Stage Fright (1950) mit Marlene Dietrich, der interessanterweise ebenso wie Murder! im Theater-Milieu spielt). Hingegen typisch Hitchcock: Die erste Szene ist unglaublich dicht und enthält gleich die entscheidenden Hinweise, die später zur Lösung des Falles nötig sein werden (man denke daran, wie sorgfältig seine späteren Titelsequenzen schon den Film vorbereiten, etwa in Vertigo oder Psycho; aber auch wie wichtig es für Hitchcock ist, zentrale Motive in der ersten Szene zu etablieren, wie das Augenzwinkern in Young and Innocent, Mr Memory in 39 Steps, die Dreiecksgeschichte in Dial M For Murder usw.). So schafft es Hitchcock, eine Verbindung von der ersten zur letzten Szene herzustellen, die in einem Whodunit meistens die Auflösung ist (Hitchcock: "Ich habe die Whodunits immer gemieden, weil im allgemeinen nur ihr Schluss interessant ist" [Truffaut 64]).
Inhaltsangabe zu Hitchcocks Murder! (1930)
Lärm in der Nacht: Ein Mord ist geschehen. Diana Baring (Norah Baring, ja, sie hat denselben Nachnamen wie ihre Rolle), eine junge Schauspielerin, sitzt apathisch in einem Sessel, zu ihren Füßen ein blutiger Schürhaken und die Leiche der ermordeten Edna Druce. Sie wird verhaftet, des Mordes angeklagt und von der Jury für schuldig befunden. Auch in der Jury: Sir John (Herbert Marshall), ein Bühnenautor und Schauspieler, der seine Zweifel an der Richtigkeit des gemeinsam gefällten Urteils hat und eigenständig Ermittlungen beginnt. Mehr und mehr Indizien zeigen auf den wahren Täter, den Frauenkleider tragenden Schauspieler und Zirkusartisten Handel Fane (Esme Percy). Mit einer an Hamlet erinnernden Mausefalle gelingt es Sir John, Fane in die Enge zu treiben. Am Ende eines Trapezakts erhängt sich Fane selbst. Diana kommt frei und kehrt zur Bühne zurück, wo sie mit Sir John spielen darf.
Homosexualität als Mordmotiv?
Es ist sicher gut, nicht zu sehr über die Tat und den Tathergang nachzudenken. Sir Johns Rekonstruktion wirkt konstruiert, weil es die Textvorlage für Murder! auch ist. Der Mord selbst hat viele Unwahrscheinlichkeiten. Aber das ist in Hitchcocks Filmen nicht unüblich (selbst in Vertigo ist bekanntlich alles maximal unwahrscheinlich und konstruiert).
Beim Rasieren hört Sir John Tristan und denkt nur an Diana |
Auch ist die Motivation der einzelnen Charaktere nicht immer klar erkennbar. Vieles spricht dafür, dass Sir John aus Liebe zu Diana handelt: Sein Sinneswandel ereignet sich beim Rasieren. Eine Szene zuvor hatte er dem Druck der Jury nachgegeben und sie schuldig gesprochen. Jetzt steht er vor seinem Badezimmerspiegel und wir hören als Voice-Over seine Gedanken, den inneren Monolog, während aus dem Radio das Tristan-Vorspiel läuft, dann trinkt er ein Glas, das ihm sein Diener bringt. Soll dies der Liebestrank aus Wagners Tristan und Isolde sein? Ist er Diana jetzt verfallen? Macht er sich deshalb auf zu fremder Küste, indem er, der Gentleman, sich mit dem einfachen Volk abgibt?
Fane in Drag. Nur auf der Bühne kann er sich ausleben. Seine Rolle ist sein Leben. |
Oder die Motivation des Täters. Was ist sein Geheimnis, für dessen Schutz er zu einem Mord bereit war? Im englischen Film (Murder!) ist es, dass er ein „half-caste“ sei, so das rassistische Wort (siehe hier bei 1:18:15). Da Nachsynchronisierung damals noch nicht möglich war, drehte Hitchcock parallel den Film noch einmal mit einem deutschen Ensemble (Einstellung für Einstellung, fast wie Gus van Sants Psycho von 1998 ein shot-by-shot-Remake von Hitchcocks Psycho von 1960 ist). Er wurde unter dem Titel Mary veröffentlicht. Interessanterweise wird dort das Motiv im Unklaren gelassen (siehe hier). Der deutsche Sir John sagt der Verurteilten, sie wolle den Mann schonen, weil sie ihn liebe, woraufhin diese sagt: „Das ist nicht wahr!“ während die englische Diana sagt: „Oh, but that’s impossible“. Wieso „impossible“? Das leuchtet für das von Diana angegebene Motiv selbst im England der 1930er Jahre nicht ein (zumal im Theatermilieu).
Diana in der Gefängniszelle. Der Tisch wirkt wie eine Attrappe |
Das führt zu der heute allgemein akzeptierten Interpretation, dass die von Diana erwähnte "Unmöglichkeit" in Fanes Homosexualität besteht, was im Film der Zeit nicht ausbuchstabiert hätte werden dürfen (der Oscar Wilde-Prozess lag gerade einmal 35 Jahre zurück). Dies also die „sexual undertones” (Callahan 36) des Films, die erklären, was eigentlich gemeint ist, wenn Fane vom Bühnenleiter mit den Worten: „100% He-Woman“ vorgestellt wird und wir ihn ständig in Frauenkleidern sehen (auf der Bühne, aber für Hitchcock ist Rolle und Person ohnehin ein sehr brüchiges Konstrukt). Truffaut sieht hier noch nicht einmal „Untertöne“ wie Callahan, sondern spricht von einer „kaum kaschierten Homosexuellengeschichte“ (Truffaut 67).
Der schwule Held in Murder!
So wie Sir John in einer beeindruckend inszenierten Szene von den übrigen Geschworenen so lange bedrängt wird, bis er „schuldig“ plädiert, wird Fane von der Gesellschaft (und Sir John!) so lange bedrängt, bis er seine Homosexualität als „schuldig“ ansieht und öffentlich Selbstmord begeht, in einer letzten, großen theatralen Geste. Hitchcocks Faszination mit Homosexualität kam in diesem Blog schon mehrfach zur Sprache und seine Inszenierung von Fane ist stellenweise feinfühlig – so gut sich das 1930 eben machen ließ, ohne Zensur zu riskieren.
Die deutsche Fassung des Films (Regie: Hitchcock) tilgt alle Andeutungen auf Homosexualität |
Aber war das alles den Deutschen zu offensichtlich? Wollten sie deshalb die homosexuelle Erklärung tilgen und das Motiv im Ungefähren lassen? War ihnen vielleicht die Figur zu interessant, zu heldenhaft („Fane ist ein charakteristischer gay hero Hitchcocks“, wie Grissemann mit Betonung auf hero schreibt [261])? Mit Blick auf die 1930er Jahre in Deutschland hat es manche gewundert, dass man das „half caste“-Motiv nicht disambiguiert und stärker in den Vordergrund gerückt hat. Aber wir sollten uns hüten, alle Deutschen um 1930 als Rassisten und Nazis abzustempeln, schließlich floh kurz darauf ein beträchtlicher Teil der Filmschaffenden aus Deutschland vor genau diesen Nazis und so könnte genau hier der Grund liegen, weshalb man sich dagegen entschied, rassistische Motive in den deutschen Film zu integrieren. Und da die homosexuellen Motive auch nicht in Frage kamen, ließ Mary das Motiv einfach offen. Möglich wäre es.
Die ganze Welt ist Bühne: Rollen und Identität in Murder!
Juno and the Paycock war abgefilmtes Theater. Murder! hingegen nimmt Theater als Metapher. Der Film spielt im Theatermilieu und ständig sehen wir Schauspieler*innen, die sich verkleiden. Was ist hier Wirklichkeit, was nur Rolle, scheint der Film fragen zu wollen. Inwiefern ist der Gerichtssaal mit seinen Roben und Perücken nicht einfach auch nur ein großes Theater? „Die ganze Welt ist Bühne / Und alle Frauen und Männer bloße Spieler. / Sie treten auf und gehen wieder ab, / Sein Leben lang spielt einer manche Rollen,“ wie es bei Shakespeare heißt (Wie Es Euch gefällt, 2.7, Schlegel-Übersetzung).
Auch dieses Geschworenengericht ist nur Theater |
Und so ist die Lösung des Falles auch, dass der Mörder, ein Schauspieler, manche Rolle gespielt hat, zum Beispiel die eines Polizisten; oder dass seine für einen Mann sehr hohe Stimme fälschlich für die einer Frau gehalten worden ist; und dass sein ganzes Leben ein Drahtseilakt gewesen ist (im Film übersetzt in seinen waghalsigen Trapez-Akt).
Auch das Ende ist ambivalent (und erinnert an eine sehr ähnliche Szene in Hitchcocks Downhill): Wir sehen Sir John und Diana glücklich verheiratet. Die Kamera fährt zurück, bis wir erkennen, dass sie auf einer Bühne stehen und das Ehepaar nur spielen. Der Film lässt offen, ob sie auch abseits der Bühne ein Paar werden, weil die Rolle, das Gespielte, das eigentlich Solide und Sichere ist, so Hitchcocks Film. Nur in der Rolle der „He-Woman“ konnte Fane sein wahres Ich ausleben. Nur in der Bühnenrolle des Ehepaares hat die Liebe von Sir John und Diana Bestand. „Die ganze Welt ist Bühne“. Jenseits der Bühne lauern der Tod und die Einsamkeit, sagt Hitchcocks Murder!
Schlussszene des Films: Das Paar ist vereint... die Kamera fährt zurück: Alles nur Theater! |
Maurice Yacowar liegt daher falsch, wenn er behauptet, Hitchcocks Film gehe gezielt über diese Shakespeare-Stelle hinaus, indem er “demonstrates the danger of framing off life as if it were art“ (99). Es ist gerade die Kunst-Vergessenheit der Gesellschaft, die hier tödlich wirkt. Es ist der penetrante Ruf nach Authentizität, der zerstört, die Aufforderung, dass man immer nur sein müsse und nichts spielen dürfe, es ist der Wunsch, klare Verhältnisse zu schaffen (der Wunsch der Nazis, die sich 1930 bereits in Stellung bringen). In Hitchcocks Murder! tötet fehlende Ambiguitätstoleranz. Hitchcocks Plädoyer ist: Mehr Rolle bedeutet mehr Sein.
Fazit
Hier geschah der Mord und gleich nebenan, fühlt man, wohnt Doktor Caligari |
Films Cited/Mentioned (in chronologischer Reihenfolge)
- Das Cabinet des Dr. Caligari (dir. Robert Wiene) (1920)
- Downhill (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
- Juno and the Paycock (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
- Murder! (dir. Alfred Hitchcock) (1930)
- Mary (dir. Alfred Hitchcock) (1930, veröffentlicht 1931)
- The 39 Steps (dir. Alfred Hitchcock) (1935)
- Young and Innocent (dir. Alfred Hitchcock) (1937)
- Stage Fright (dir. Alfred Hitchcock) (1950)
- Dial M For Murder (dir. Alfred Hitchcock) (1954)
- Vertigo (dir. Alfred Hitchcock) (1958)
- Psycho (dir. Alfred Hitchcock) (1960)
- Psycho (dir. Gus van Sant) (1998)
Works Cited (alphabetische Reihenfolge)
- Callahan, Dan. The Camera Lies: Acting for Alfred Hitchcock. Oxford: Oxford University Press, 2020.
- Grissemann, Stefan: "Murder! (1930)". In: Lars-Olav Beier und Georg Seeßlen (Hg.): Alfred Hitchcock. Berlin: Bertz Verlag, 1999:
- Rohmer, Eric; Chabrol, Claude. Hitchcock. The First 44 Films. New York: Ungar, 1979.
- Truffaut, François. Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? 1966. Übers. v. Frieda Grafe und Enno Patalas. 2. Auflage. München: Heyne, 2003.
- Yacowar, Maurice. Hitchcock's British Films. 2nd ed. Detroit: Wayne State UP, 2010.
Kronshage, Eike. "Hitchcocks Murder! (1930), oder: Die ganze Welt ist Bühne." Hitchcock: Rewatch 2022, 12.06.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/06/murder-mary-.html.
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