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Hitchcock #029: Shadow of a Doubt (1943), oder: Double, double, toil and trouble

Schatten: Sie werden in Hitchcocks Im Schatten des Zweifels ganz wörtlich genommen (vielleicht sogar etwas zu wörtlich)

Ich möchte diesen Artikel mit einer Anekdote beginnen. Nicht aus Unvermögen oder Verweigerung, etwas Substanzielles über den Film zu schreiben (so wie Hitchcock oft ins Anekdotische auswich, wenn er nicht über Themen reden konnte oder wollte; wie ich bereits hier ausführlich schrieb). Nein, ich glaube, in diesem Fall ist das Anekdotische aufschlussreich

Als ich in den frühen 90ern Hitchcock entdeckte und dann mit den damaligen, begrenzten Möglichkeiten versuchte, ihn mir systematisch zu erschließen, passierte es, dass ich davon las, dass Hitchcock dieser Film, Shadow of a Doubt (dt. Im Schatten des Zweifels), aus seiner Filmografie der liebste sei. Entsprechend neugierig war ich auf ihn; entsprechend verärgert, dass weder die örtliche Bibliothek, noch die Videotheken meiner Stadt den Film im Programm führten. Irgendwann, ich war inzwischen schon recht vertraut mit zahlreichen Hitchcock-Filmen, lief er endlich nachts in irgendeinem dritten Programm und ich nahm ihn, wie man das damals tat, auf VHS-Kassette auf, um ihn später oft wiedersehen zu können.

Ich sah ihn mir an. Ich war enttäuscht. Ich schaute ihn nie wieder. 

Typische Hitchcock-Szene: Nichte Charlie kommt die Treppe herunter (1). Ihr Onkel begrüßt sie freudig (2). Da fällt sein Blick auf den verräterischen Ring, den sie trägt (3). Schnitt auf sein Gesicht, dem alle Freude entwichen ist (4).

Jetzt, im Rahmen der Vorbereitung sah ich ihn erneut. Ich erwartete, nichts mehr von dem Film zu wissen. Schließlich hatte ich ihn vor rund 30 Jahren zuletzt gesehen. Beim erneuten Anschauen war ich überrascht, als ich feststellte, dass ich zahllose Einstellungen, ja zum Teil ganze Szenen, noch sehr genau in Erinnerung hatte. 

Ein brillantes Gedächtnis hatte ich noch nie. Kulturelle Osmose, der Prozess also, durch den wir uns Kunstwerke aneignen, ohne sie selbst je zu rezipieren, schied auch aus: Shadow of a Doubt hat keine so eindringlichen Bilder wie Psycho oder North by Northwest; auch keine monumentalen Bilder wie Saboteur (Freiheitsstatue) oder Spellbound (Dalì). Wieso also konnte ich mich noch so gut an den Film erinnern? 

Verdoppelung: Onkel Charlie nachdenklich im Bett, als jemand reinkommt (links). Nichte Charlie nachdenklich im Bett, als jemand reinkommt (links).

Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstand, dass die ganz alltäglichen Bilder in Shadow of a Doubt systematisch verdoppelt werden, ja, dass die Verdoppelung das zentrale Strukturprinzip dieses Films ist. Das ist keine sonderlich tiefgehende Einsicht – als ich im Anschluss die Forschungsliteratur las, merkte ich gleich, dass der Film tatsächlich genau daraufhin dutzendfach analysiert worden war. Donald Spoto widmet dem Thema mehrere Seiten (die er natürlich – etwas fragwürdig – ins Biografische wendet, als Ausdruck von Hitchcocks charakterlicher Ambiguität): "Das strukturelle Element in Im Schatten des Zweifels [...] besteht in einer nahezu endlosen Anhäufung von Doppelungen: die zwei Charlies; die zwei Polizisten im Osten, die Charlie verfolgen, dann zwei im Westen; zwei gesuchte Verbrecher; zwei Frauen mit Brillen; zwei Dinner-Szenen; zwei Amateur-Detektive, die sich zwei Mal über das Töten unterhalten; zwei kleine Kinder; zwei ältere Sprößlinge; zwei Szenen am Bahnhof [...] – und so weiter, fast unzählbar" (Spoto 305).

Aber auch wenn die strukturelle Doppelung zu Tode analysiert ist, bleibt es zumindest interessant, dass die Verdoppelung von Bildern und Strukturen innerhalb eines Films zu gesteigerter Retentionsleistung führen kann – selbst über Jahrzehnte hinweg. Zugegeben ist das von rein anekdotischer Evidenz, aber ich möchte daher vor allem auf die Bilder und die Wiederholungen in diesem Film eingehen. 

Inhaltsangabe von Hitchcocks Shadow of a Doubt

Charles Oakley (Joseph Cotten) scheint beobachtet zu werden, zwei Männer stehen vor seinem Haus. Doch er kann ihnen entkommen und beschließt, zur Familie seiner Schwester (Patricia Collinge) nach Santa Rosa in Kalifornien zu fahren. 

Die Initialen im Ring, den Onkel Charlie seiner Nichte Charlie schenkt, sind falsch. Die Geste ist es auch: Hitchcock inszeniert es wie eine Eheschließung, bei der der Bräutigam seiner Braut den Ehering ansteckt: Eine Spur von Inzest, wie Hitchcock sie in späteren Filmen (The Birds, Psycho) weiter erkunden sollte

Dort hat seine Nichte Charlie (Teresa Wright) eine Art Sinnkrise; die triste Einöde der idyllischen Kleinstadt nagt an der lebenshungrigen jungen Frau. Da kommt der Besuch ihres Onkels gerade recht; mit ihm kehrt die Freude in ihr Leben zurück. Er überhäuft die Familie mit Geschenken, darunter auch ein Ring für seine Nichte, in den die Initialen "B.M." eingraviert sind (statt C.N. für seine Nichte). 

Als kurz darauf ein Detektiv (blass wie Hitchcocks Detektive es oft sind: Macdonald Carey) in ihr Leben tritt und ihr offenbart, dass er auf der Suche nach einem vermeintlichen Mörder sei und dieser Mörder möglicherweise ihr Onkel Charlie sein könne, fällt der titelgebende Schatten des Zweifels auf das Verhältnis des Mädchens zu ihrem Onkel. Sein Verhalten, was zuvor eigensinnig erschien, wirkt nun verdächtig. Als Charles merkt, dass seine Nichte ihn verdächtigt, versucht er sogar, sie ums Leben zu bringen. 

Schluss mit lustig: Der geliebte Onkel Charlie schreckt nicht davor zurück, seine eigene Nicht aus dem fahrenden Zug zu werfen, um seine eigene Haut zu retten

Schließlich verlässt er die Stadt; im Zug reißt er Charlie an sich und will sie aus dem fahrenden Zug stürzen. Er fällt selbst in den Tod, der Film ist zu Ende.

Im Schatten des Zuchthauses: Onkel Charlie hinter schwedischen Schatten-Gardinen

Der Film ist interessant fotografiert, denn er greift etwas wieder auf, das Hitchcock vom expressionistischen Kino gelernt, eine Weile verwendet, dann aber wieder fallengelassen hatte: Das Spiel mit Licht und Schatten. Vielleicht hat ihm der Titel des Films, Shadow of a Doubt, die Idee gegeben, mit Schatten zu spielen. 

Buchstäbliches foreshadowing: Ständig fallen gestreifte Schatten auf Charlies Gesicht, als säße er schon hinter Gittern

Insbesondere sind es Schatten, die auf das Gesicht von Onkel Charlie fallen. Und meistens sind diese Schatten in irgendeiner Weise gitterförmig, so als würde das Unausweichliche, Charlies Verhaftung, ganz buchstäblich seinen langen Schatten werfen – auf Charlies Gesicht.

Unüblich für Hitchcock: Die zahlreichen dutch angles. Allesamt in Verbindung mit Onkel Charlie: Entweder ist er selbst (links oben und rechts unten) oder sein Haus in New Jersey (rechts oben) oder sein Zimmer in Santa Rosa (links unten) zu sehen

Dazu kommen die zahlreichen dutch angles in dem Film, die an den zwei Jahre zuvor veröffentlichten Citizen Kane von Orson Welles erinnern lassen (in dem auch Joseph Cotten mitgespielt hatte). Die Eindeutigkeit des dutch angles war nie so wirklich Hitchcocks Sache. Hier aber scheint er Vergnügen daran zu finden. Sie zeigen immer eine Verbindung zu Onkel Charlie, in dessen Leben nichts so wirklich gerade ist. Damit stehen die "gekippten" Bilder in Kontrast zur "geraden" Welt der Newton-Familie, deren Bilder mit der Wasserwaage austariert zu sein scheinen.

Onkel Charlie tötet reiche Witwen. Wie so oft bei Hitchcock: Durch Erwürgen ("Würgen ist die bevorzugte Tötungsart der Hitchcockschen Schurken," schreibt Donald Spoto [302])

Das bedeutet für uns als Publikum aber auch, dass die Filmsprache Joseph Cottens Charakter so eindeutig als finsteren Schurken inszeniert, dass für uns auch nicht der Hauch eines Zweifels bestehen kann, dass er ein Verbrecher ist. Anders als Cary Grant in Suspicion, der durch seinen Charme die Frage offenlässt, bringen die Inszenierung und Cottens Spiel eine Unzweideutigkeit in den Film, die zwar als Suspense zu verbuchen ist, aber letztlich auch die Frage aufwirft, wieso niemand in Santa Rosa die Wahrheit durchschaut. "The whole suspense of the movie is, 'When are they going to find out?'", wie Hitchcocks Tochter Patricia einmal sagte (Beyond Doubt). Aber warum dann überhaupt die Frage so lange offenlassen, ob er der Mörder ist? Warum ihn nicht einfach beim Erwürgen einer Witwe zeigen? Das alles ergibt nicht immer Sinn.

Geht's noch etwas Schurkischer? Während Charlie bei Tisch davon sprich, man solle reiche Witwen wie Vieh schlachten, fährt die Kamera (die subjektive Kamera aus Nichte Charlies Position) langsam auf ihn zu, bis er seinen Kopf ein wenig nach rechts dreht und direkt in die Kamera schaut – in die Augen seiner Nichte und des Filmpublikums gleichermaßen

Die Verehrung von Onkel Charlie durch die Familie wirkt gekünstelt, wenn er gerade bei Tisch, in Anwesenheit der Kinder, erzählt, man solle vermögende Witwen abschlachten wie Vieh und dabei sinister die vierte Wand durchbricht, wenn er direkt in die Kamera schaut, als wolle er uns sagen: "Ihr da in den Kino-Sälen, Ihr glaubt das doch auch!" Ja, das ist zwar schön fotografiert und gut gespielt, aber leider auch etwas vordergründig inszeniert. 

Fazit

Ich mochte Hitchcocks Shadow of a Doubt noch nie so recht. Seine Struktur hat etwas Einfältiges, wenn man das über einen Hitchcock-Film sagen darf. Licht/Schatten und Verdopplung sind die zentralen Aspekte mit denen hier inszeniert wird; schön inszeniert, ja, aber keineswegs immer subtil. Bei seinen seinen Stummfilmen sprach Hitch oft davon, dass deren Bildsprache zu subtil fürs Publikum gewesen sei – etwa bei The Ring, der Hitchcock zufolge voll gewesen sei von "kleinen visuellen Ideen, die manchmal so subtil waren, dass die Leute sie gar nicht bemerkten" (Truffaut 47; siehe auch meinen Beitrag dazu). Subtil ist die Bildsprache in Shadow of a Doubt hingegen keineswegs. Entschlüsseln lässt sie sich recht schnell, auch von einem weniger versierten Publikum. 

Polizisten sind bei Hitchcock immer etwas einfältig. In Santa Rosa sind das aber wirklich alle, so dass diesem freundlichen (und seltsamerweise von unten gefilmten) Polizisten nun wirklich nichts vorzuwerfen ist

Sein Ruhm und sein Ansehen kommen sicherlich daher, dass einerseits Hitchcock diesen Film als einen seiner liebsten nannte (siehe Truffaut 142; und auch Patricia Hitchcock äußert das in dem Dokumentarfilm Beyond Doubt: The Making of Hitchcock's Favorite Film) und davon, dass der Film sehr stark biografisch gelesen wird: Emma ist der Name der Mutter im Film, er ist der Name von Hitchcocks Mutter, die während der Arbeit am Film verstarb; Charlie-Onkel und Charlie-Nichte "stehen symbolisch für die helle und die dunkle Seite des erwachsenen Hitchcock" (Spoto 303) und ähnlich anekdotischer Kram, der sich natürlich beliebig behaupten, aber nie belegen lässt.

Rezeptionsgeschichtlich haben diese Deutungen Shadow of a Doubt zu einem Schlüsselfilm werden (oder: verkommen?) lassen. Man redet sich ein, von ihm Antworten auf die Frage "Wer war Alfred Hitchcock?" zu erhalten. Und verschwendet mit der Suche nach einer Antwort freilich seine Zeit.

Kurz: Mein Fazit fällt negativ aus. Das ist ein sehr leicht lesbarer Film (was nichts Schlechtes ist). Aber er verliert damit die für Hitchcock typische Subtilität. Es ist vielleicht ein guter Film für das erste Semester Filmwissenschaft. Man braucht nicht viel, um ihn zu verstehen und seine Bildsprache zu erkennen. Aber ja, er ist deshalb auch etwas oberflächlich. 

Wenn er dennoch in Erinnerung bleibt, dann weil er durch das Dopplungsprinzip viele Redundanzen erzeugt. Und durch Widerholen lernen wir bekanntlich. Nur viel zu lernen gibt es hier nicht. Mehr als 5 Messer kann ich diesem Film nicht geben. Und nein, die Anzahl der Messer wird auch für diesen notorischen Verdopplungsfilm nicht verdoppelt. 

Works Cited (alphabetische Sortierung)

Films Mentioned (chronologische Sortierung)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Hitchcocks Shadow of a Doubt (1943), oder: Double, double, toil and trouble" Hitchcock: Rewatch 2022, 20.10.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/10/shadow-of-a-doubt-verdopplung.html.

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