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Hitchcock #030: Lifeboat (1944), oder: Hitchcocks Floß der Medusa


Man ist sicher nicht überrascht, dass Hitchcock es schafft, zu schockieren: Ein Messer unter der Dusche, bedrohliche Vogelschwärme, eine Verschwörung im Zug... all das identifizieren wir als "typisch Hitchcock", all das schockiert auf seine je eigene Weise. Aber Hitchcocks Lifeboat ist brutal und schockiert aus anderen Gründen als Psycho, The Birds oder The Lady Vanishes. Er befriedigt nämlich solche Kritiker*innen, die Hitchcock immer verächtlich die "Wahrscheinlichkeitskrämer" genannt hat – also die Leute, die seinen Filmen vorhalten, total unwahrscheinliche Geschichten zu erzählen (zum Leben erwachte Mütter töten unter der Dusche, Vogelschwärme attackieren ein harmloses Dorf, eine internationale Verschwörung entführt eine alte Dame). Lifeboat ist von Hitchcocks bisherigen Filmen fraglos der "realistischste", wenn man das so sagen kann. Und das macht seine Brutalität umso spürbarer.

Die erste Leiche, die wir sehen, ist ein deutscher Offizier. "Nur ein toter Nazi ist ein guter Nazi," will einem Hitchcock mit dieser Szene entlocken. Die Freude über den Tod des Feindes bleibt dem Publikum (damals wie heute) jedoch wenige Minuten später im Halse stecken, als das zweite Opfer gezeigt wird: Ein ertrunkenes Baby. Das ist brutal, das schmerzt und es würde nach billigem Effekt riechen, wenn nicht vorher der ertrunkene deutsche U-Boot-Offizier gezeigt worden wäre. Freude, so Hitchcock, gibt es im Krieg nicht – nur Tod.

Die erste Leiche des Films

Und so ist Hitchcocks Lifeboat eine Meditation über den Tod. Der kommt in diesem Film auf verschiedene Weise daher: Leute ertrinken, verdursten, begehen Selbstmord, werden erschossen, werden in die Luft gesprengt, werden gelyncht... und das in gerade einmal 96 Minuten Laufzeit des Films. 

Doch das augenfälligste Merkmal von Lifeboat ist nicht so sehr die kondensierte Zeit, sondern der eingeschränkte Raum. Denn der gesamte Film spielt auf dem titelgebenden Rettungsboot. An Bord dieses kleinen Bootes werden alle -ismen durchdekliniert: Rassismus, Sexismus, Klassismus, Nationalismus uvm. Eine Gesellschaft im Kleinen, eine Robinsonade ohne Insel, ein Kammerspiel wie gemacht für den Ethik-Unterricht. 

Hitchcocks berühmter Cameo-Auftritt: Hier in einer Zeitungsanzeige für ein Produkt zur Gewichtsreduktion

Die internationale Nachkriegsliteratur wird Dramen und Romane nach ähnlichem Prinzip schreiben (freilich ohne erkennbare Bezugnahme auf Lifeboat), z.B. Zeit der Schuldlosen von Siegfried Lenz oder Die Panne von Friedrich Dürrenmatt, aber auch Lord of the Flies (dt. Herr der Fliegen) von Literaturnobelpreisträger William Golding. Wenn der Raum begrenzt ist, wenn demokratische Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt sind, wenn durch keine Gewalt Hierarchie herzustellen ist, wie werden sich die Menschen verhalten? Die Antwort: selten edel, hilfreich und gut, wie es bei Goethe heißt...

Inhaltsangabe zu Hitchcocks Lifeboat (dt. Das Rettungsboot)

Ein Passagierschiff wird im Zweiten Weltkrieg von einem deutschen U-Boot versenkt. Einige der Passagiere können sich auf das titelgebende Rettungsboot (engl. Lifeboat) retten. 

Der Deutsche ist der Duracell-Hase: Er rudert und rudert und rudert...

Als sie einen deutschen U-Boot-Offizier an Bord ziehen (später stellt sich heraus, dass er der Kapitän eben jenes U-Boots war, dass das britische Passagierschiff versenkt hat), entbrennt ein Konflikt, wie mit ihm umzugehen sei. Man entschließt sich, ihn am Leben zu lassen, da er als Kapitän, der vor dem Krieg Chirurg war, überlebensnotwendige Kenntnisse besitzt.

Unter erheblichen Verlusten und Entbehrungen übersteht die Gruppe so manche Herausforderungen: Wundbrand führt zu einer Beinamputation; ein Baby stirbt, die verzweifelte Mutter wählt daraufhin den Freitod im Meer; ein Sturm, mangelnde Vorräte, fehlende Orientierung und vieles mehr.

Als die Gruppe merkt, dass der Deutsche, Willi, (Walter Slezak), der seit Stunden rudert, sie hintergangen hat und in Richtung eines deutschen Versorgungsschiffs rudert, töten sie ihn. 

Kurz darauf kommen sie an dem deutschen Schiff an, gerade als dieses unter Beschuss gerät und versenkt wird. Die Gruppe wird von einem Schiff der Alliierten aufgenommen. Ende.

Die britische Angst vor dem Mob: Von Dickens zu Hitchcock

Blickt man auf die Filme, die Hitchcock noch machen wird, fallen Parallelen zu Rear Window und Rope auf, die beide auf verknapptem Raum spielen. Rope zudem mit der Frage, wie sich Hierarchien etablieren lassen (unter Zuhilfenahme der etwas vulgär-nietzscheanischen Übermensch-Theorie). Ob Rear Window und Rope so gut geworden wären, wenn Hitchcock die Verknappung des Raums nicht bereits Jahre zuvor in Lifeboat geübt hätte, bleibt letztlich Spekulation. Ebenso ist es fraglich, ob man Lifeboat als einen von vielen "'transitional' films of the 1940s and the 1950s" betrachten kann, wie das Richard Allen tut (Allen 2007: 86). Diese anachronistische Perspektive sieht das Hollywood-Frühwerk immer nur als ein "Noch-nicht", als eine Vorstufe der "wahren Meisterschaft" der späteren Filme. Eine diachrone Entwicklung zu konstatieren ist keineswegs falsch; jedoch wird der "frühe Film" dann lediglich als Sprungbrett zum späten Werk betrachtet, als hätte Hitchcock 1944 schon gewusst, dass er 10 Jahre später Rear Window drehen und damit ein Meisterwerk schaffen würde.

Der Lynchmob schmeißt den Deutschen über Bord und schlägt mit einem Schuh auf ihn ein

Kehren wir den Vektor um. Blickt man von Lifeboat aus auf die zuvor gedrehten Filme Hitchcocks, fallen Parallelen zu The Lodger auf, der in seinen Schlussszenen auch einen wütenden, aufgebrachten Mob zeigt, der Lynchjustiz üben will (im Lodger wird der Mob in letzter Sekunde davon abgebracht, hier in Lifeboat führt er die Tat aus). Ich hatte bereits ausgeführt, dass diese Szenen in The Lodger direkt von Dickens inspiriert zu sein scheinen (siehe meinen Artikel zu The Lodger, wo ich auch auf Hitchcocks Dickens-Kenntnisse eingehe). 

In Lifeboat ist es Willis Satz "Too bad Schmidt couldn't have waited", der den Zorn des Mobs auslöst. Es ist die Kriegskrankenschwester Alice (Mary Anderson), die als erste auf Willi losrennt und ihn zu würgen beginnt. Die anderen folgen, wobei in dem Durcheinander nur schwer zu erkennen ist, wer was tut. Als Joe (Canada Lee) versucht, Alice festzuhalten, reißt sie sich los und drängt wieder auf Willi ein. Stanley (Hume Cronyn, der in Shadow of a Doubt noch den kauzig-liebenswürdigen Nachbarn gespielt hatte) ergreift als erster eine improvisierte Waffe, eine Holzplanke, und schlägt fünf Mal auf Willi ein, bevor ihn der Mob über Bord wirft. Schließlich ist es der Großindustrielle Mr. Rittenhouse (Henry Hull), der den Schuh des verstorbenen Gus (William Bendix) ergreift und zwei vermeintlich tödliche Schläge auf den im Wasser schwimmenden Willi abgibt. 

Die Szene ist 75 Sekunden lang, ohne dass Hitchcock schneidet. Auch Musik gibt es keine. Die Szene wirkt in ihrer Nacktheit besonders brutal. Eine Überblendung zeigt die sechs noch lebenden Menschen nach der Tat (wie lange nach der Tat ist nicht zu sagen). Alle sind bemüht, sich nicht gegenseitig in die Augen zu blicken und starren stattdessen in die Leere. Rittenhouse, der den letzten Schlag ausgeteilt hat, ist der erste, der die Sprache wiederfindet: "To my dying day, I'll never understand Willi or what he did." Er versucht, Verantwortung von sich zu weisen, indem er auf das erratische Verhalten Willis verweist. Die Kamera fährt langsam auf ihn zu und ist nah bei ihm, als Rittenhouse ans Ende seiner Rede kommt: "When we killed the German, we killed our motor." Als ganz am Ende des Films ein weiterer Deutscher aus dem Wasser gefischt wird, ist es erneut der Kapitalist, der mit giftiger Stimme befiehlt: "Throw him back!" und anmerkt "You can't treat them as human beings, you've got to exterminate them." 

Die erste Leiche im Film: ein Nazi. Die letzte Leiche im Film: ein Nazi

Es ist bemerkenswert, dass Hitchcocks Nazi kein dümmlicher Bösewicht ist, sondern ein Mensch mit Qualitäten und Kompetenzen (was ihm die Kritik dann auch vorgeworfen hat, z.B. Bosley Crowther in der NYT: "the most efficient and resourceful man in this 'Lifeboat' is the Nazi"). Er war Chirurg vor dem Krieg, er singt gerne Lieder, er spricht mehrere Fremdsprachen, darunter Englisch und Französisch, die Sprachen seiner Feinde (fun fact: in der dt.-sprachigen Synchronisation wurde er kurzerhand zu einem Niederländer in Diensten der Wehrmacht umgedeutet, so dass erklärt werden kann, wieso die anderen Leute an Bord ihn nicht verstehen; sie sprechen synchronisiert alle Deutsch, er spricht holländisch). 

Der Deutsche ist Chirurg. Als das Bein eines Passagiers amputiert werden muss, helfen alle dem Deutschen bei den Vorbereitungen

Richard Allen und Sam Ishii-Gonzáles sprechen von der "controversy generated by the film's almost sympathetic portrayal of a Nazi sailor" (Allen/Ishii-Gonzáles 2004: xvii). Andere sehen genau darin die Stärke des Films, wie Palmer, der den Film als Darstellung von und Warnung vor "the dangers of a seductive and complex fascism" deutet (Palmer 2006: 93). Denn es zeigt sich am Ende, dass Willi die ganze Zeit über skrupellos seine Eigeninteressen verfolgt hat. Die Ambiguität des Charakters, des offensichtlichen Schurken, macht den Film zu mehr als einem bloßen Propaganda-Stück, sondern zu einer vielschichtigen Charakterstudie, die eben darum auch heute noch faszinieren kann. Hitchcocks Lifeboat ist mehr als ein Film über tote Nazis, auch wenn der Tod von Nazis diesen Film rahmt.

Fazit

Die künstliche Limitierung von Raum im Film ist eben immer auch das: künstlich. Es fühlt sich forciert an, experimentell, wie reine Formspielerei. Und ja, all das ist Lifeboat ganz fraglos auch. Es ist der Film, bei dem Zuschauer*innen als erstes einfällt "Ach, der auf dem Boot!" 

Zu Beginn ist die Kamera buchstäblich mit an Bord, als Zeichen, dass alles dokumentiert werden wird. Doch sie geht als erster wichtiger Gegenstand ins Wasser...

Zum Glück ist das nicht alles, was der Film zu bieten hat. Er ist ein sehr einfühlsame Charakterstudie über das Überleben auf dem offenen Meer. Er ist gewissermaßen Hitchcocks Floß der Medusa, wenngleich es bei ihm kaum die flehenden und klagenden Gesten Géricaults gibt. 

Als die verbleibenden sechs Passagiere gerettet werden, sind sie noch genug bei Kräften, um sich über ihr Aussehen Gedanken zu machen und sich Familienfotos zu zeigen. Das ist bei Géricault nicht der Fall.

Ein Film, der drastisch ist, ohne sich in Gewaltfantasien zu ergeben. Die Grausamkeit ist – trotz abgetrennter Beine und ertrunkener Kleinkinder – keine äußere, sondern eine innere. Ein Psychogramm und eine Gesellschaftsstudie zugleich. Das macht Lifeboat zu keinem schönen Film, aber zu einem sehenswerten. Ich gebe ihm sieben Messer – und bin froh, dass nicht so viele Waffen an Bord gewesen sind, sonst wäre es vielleicht doch ein anderer Film gewesen, mehr wie Saw...

Works Cited (alphabetische Sortierung)

Films Cited (chronologische Sortierung)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

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Kronshage, Eike. "Lifeboat (1944), oder: Hitchcocks Floß der Medusa." Hitchcock: Rewatch 2022, 18.01.2023, https://hitchcock22.blogspot.com/2023/01/lifeboat-floss-der-medusa.html.

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