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Hitchcock #027: Suspicion (1941), oder: Mit Milch gegen die Sucht

Leuchtet das Glas Milch, das Cary Grant in Suspicion die Treppe hochträgt, wirklich so hell, als ob sich eine Lampe darin befindet

... ist die Frage, die sich scheinbar noch niemand gestellt hat. Denn landauf, landab liest und hört man von der genialen Idee, dass Hitchcock das Glas, auf das allein sich die Aufmerksamkeit des Publikums richten sollte, durch eine Lampe im Inneren zum Leuchten gebracht habe. Er selbst hat davon Truffaut erzählt (Truffaut 133) und seitdem ist diese Behauptung in der Welt. Ob sie jemals jemand nachgeprüft hat, konnte ich nicht herausfinden. Aber ehrlich gesagt... milchiger als Milch sieht das nicht aus (oder mit Loriots berühmten Eheberatungssketch gesprochen, "etwas weißer als weiß"). 

Das non du père. Der Vater billigt die Ehe zwischen Johnnie (Grant) und seiner Tochter Lina (Fontaine) sicher nicht

Ich habe die Szene mehrfach geschaut und finde (einmal mehr), dass Truffaut mit seiner ursprünglichen Vermutung wohl ganz richtig lag, als er Hitchcock fragte, ob der einen Scheinwerfer auf das Glas gerichtet habe (133). Möglicherweise gehört die Lampe in der Milch einmal mehr in den Bereich der ungeprüften Hitchcock-Mythen. Und dass Hitchcock nicht immer ganz bei der Wahrheit blieb, wenn er später über Suspicion (dt. Verdacht) sprach, weist Spoto detailliert nach (279-180). Aber die Milch beflügelt die Fantasie der Kritiker*innen; manche erwähnen sie gleich im ersten Satz ihrer Analysen (wie etwa Hans-Dieter Seidel [Seidel 311]... und ja, wie auch ich in diesem Beitrag).

Linas Mutter ist eine alte Hitchcock-Bekannte: Dame May Whitty, zuvor als Ms. Froy in The Lady Vanishes, wo sie auch schon das mütterliche Prinzip verkörperte. Dort war sie abwesend, hier ist sie es auch

Ob Lampe in Milch oder nicht: Der Film strahlt auch so nicht wirklich

Inhaltsangabe von Hitchcocks Suspicion (dt. Verdacht)

Fabelhafte Namen haben die Hauptfiguren in diesem Film: Lina McLaidlaw (die für die Rolle Oscar-prämierte Joan Fontaine in praktisch derselben Rolle wie in Rebecca), die im Zug Johnnie Aysgarth (Cary Grant, zum ersten Mal für Hitchcock) kennenlernt und ihn wenig später auch heiratet.

Anfang des Films: Alles ist dunkel, der Zug fährt aus dem Tunnel, plötzlich ist da dieser Mann. Er wird nicht mehr aus Linas Leben verschwinden

Johnnie ist ein Spieler, wettet auf Pferde. Gewinnt er, überhäuft er alle um sich herum mit Geschenken. Verliert er, schreckt er auch nicht davor zurück, die Familienerbstücke seiner Ehefrau zu verscherbeln. 

Ein Freund von Johnnie stellt sich vor, mit dem wunderbaren Namen Gordon 'Beaky' Thwaite (Nigel Bruce, auch schon in Rebecca gesehen und dem Publikum vermutlich in erster Linie als Dr. Watson an der Seite von Basil Rathbones Sherlock Holmes bekannt). Es scheint, als wolle Johnnie seinen Freund Beaky zu fragwürdigen Geschäften überreden... oder am Ende sogar ermorden!? Der titelgebende Verdacht nistet sich bei Lina ein. Als Beaky dann schließlich wirklich stirbt und ihr Mann auffällig viel über Giftmorde recherchiert, glaube sie wirklich, dass er Beaky auf dem Gewissen und sie als nächstes Opfer auserkoren hat.

Rettungs- oder Mordversuch? 

In einer dramatischen Szene fahren sie im Auto an Felsklippen entlang und Lina fürchtet, Johnnie könne sie jeden Moment aus dem fahrenden Fahrzeug in den Tod stürzen. Eine rasche Bewegung, sie schreit um Hilfe, Johnnie packt sie... und beichtet ihr, dass er gar nicht vor Ort war, als Beaky starb und dass er, Johnnie, selbst Gift nehmen wollte, weil er so verschuldet ist. Happy End. Film zu Ende. Ja, wirklich wahr... 

Geschichten vom Ende her beurteilen

In der Poetik des Aristoteles heißt es: "Viele [Dichter] schüren den Knoten vortrefflich und lösen ihn schlecht wieder auf; man muss jedoch beides miteinander in Übereinstimmung bringen" (Poet. 1456a). Hitchcocks Enden sind manchmal retardierend (Psycho), manchmal schockierend offen (The Birds), manchmal herrlich augenzwinkernd (buchstäblich in Family Plot)... manchmal aber auch verwirrend, wie hier in Suspicion. Der Knoten, den der Film vor unseren "geschürt" hat, wird in diesem Film schlecht aufgelöst. 

Cary Grants Pulsader sticht deutlich hervor, als Johnnie Lina die Wahrheit ins Gesicht schreit und damit ihren Verdacht (Suspicion) für immer vertreibt... leider wenig überzeugend

Der über den Film mühsam aufgebaute Verdacht, Johnnie Aysgarth könne seine Frau Lina ermorden wollen, wird von diesem Ende einfach dadurch zerstört, dass Johnnie nun behauptet (freilich ohne Beweise vorzubringen), er habe sich nur deshalb für Gift interessiert, weil er sich selbst das Leben habe nehmen wollen – die Schulden seien zu erdrückend gewesen. Und, zack, ist Lina versöhnt und das über Wochen zerrüttete Vertrauen wieder komplett und restlos hergestellt. Sie kann sich freuen, ihr Mann ist (wahrscheinlich) doch kein Mörder! Hurra. Er ist mit Sicherheit nur ein Schwindler, Betrüger und Lügner. Findet sie. Finden wir das auch? Rohmer und Chabrol zumindest nicht: "But the spectator has seen the evidence, and doubt can still remain in his mind: sure of his claim to objectivity, he refuses to admit that he was mistaken and accuses the auteur of trifling, of being dishonest" (Rohmer und Chabrol 67). Der Schatten eines Zweifels bleibt, um den Titel eines späteren Hitchcock-Films ins Spiel zu bringen. Ob Lina ein hohes Alter erreichen wird, darf angezweifelt werden.

Schlusseinstellung: Das Ende von Linas Verdacht

Man kann nicht über Suspicion schreiben, ohne sich über das Ende zu ärgern. "The ending of Suspicion is probably the greatest violation of a core narrative by a great director," urteilt Cary Grant-Biograf Scott Eymann (172). Und Hitch selbst beschwert sich im Truffaut-Interview mehrfach über das Star-System und die Probleme, gegen den Strich zu casten (etwa bei Ivor Novello in The Lodger, siehe meinen Artikel dazu [Truffaut 37-38] oder eben hier bei Grant als Mörder in Suspicion [Truffaut 132]). Cary Grant als Mörder? Undenkbar, befand das Studio (RKO, wie schon zuvor bei Mr. & Mrs. Smith, siehe meinen Artikel dazu) und schnitt den Film zunächst auf 55 Minuten (!) runter, indem jede Szene entfernt wurde, in der Grant auch nur böse guckte. "Glücklicherweise," so Hitchcock zu Truffaut, "hat der Chef der RKO dann auch eingesehen, wie lächerlich das Ergebnis war, und ich durfte den Film so wiederherstellen, wie er vorher war" (Truffaut 132). 

Aber auch das war am Ende reine Studioarbeit, mit den Zwängen des US-amerikanischen Production Code. Das Ende ist deshalb umso ärgerlicher, weil der Anfang ("Akt 1" sozusagen), extrem gut gelungen ist und der Mittelteil ("Akt 2") immerhin Potenzial offenbart. Der Film beginnt im Dunkeln. Lina wähnte sich eben noch allein im Zugabteil, der Zug fährt aus dem Tunnel, es wird wieder hell und dann plötzlich ist dort, wie Mrs. Danvers in Rebecca aus dem Nichts aufgetaucht, dieser Mann. 

Die Urgewalt der Kussszene hat etwas von Wuthering Heights

Kurz darauf küsst er sie (in weniger stilsicheren Romanen heißt das oft "mit sanfter Gewalt"), während sie in einem Studio-Set stehen, das ein bisschen nach Emily Brontë aussehen soll (tatsächlich aber einfach nur künstlich wirkt). Sie ist ihm sofort verfallen, wie später Gregory Pecks Charakter in The Paradine Case Mrs. Paradine (Alida Valli); oder wie James Stewarts Scottie Kim Novaks Madeleine beim ersten Blick in der berühmten Szene in Ernie's Restaurant verfällt (Vertigo). Bei Hitchcock verlieben sich die Charaktere nicht, sie entflammen füreinander.

Dreierlei Abhängigkeit

Linas Abhängigkeit von Johnnie fängt Hitchcock in schönen und subtilen Bildern ein. Zwischen dem ersten Kuss und ihrem Wiedersehen telefoniert Lina drei Mal, beim ersten Mal stehen neben dem Telefon ein paar Weidenzweige in einer Vase: Linas Liebe keimt, blüht aber noch nicht. Beim zweiten Mal steht neben dem Telefon ein Strauß mit Rosen: Linas Liebe blüht nun voll in Form symbolträchtiger Rosen (und im Kontrast zu Johnnies telefonischer Unerreichbarkeit, "It doesn't matter, I'll ring again" sagt Lina enttäuscht). Beim dritten Mal jedoch, kommt der erste Zweifel in ihr auf. Johnnie ist mal wieder telefonisch nicht zu erreichen (Lina enttäuscht zur Telefonvermittlung: "No reply? Oh, thank you!"). Ist er doch nicht der Mann, für den sie ihn gehalten hat? Neben ihr: die nackte Wand. 

Blumen an Linas Telefon erzählen eine eigene Geschichte (zum Vergrößern klicken)

Die Blumensprache begleitet in traditionellem Dreischritt Linas emotionale Entwicklung in unter zwei Filmminuten. Hitchcocks inhaltliche Verdichtung wird von seiner Bildsprache getragen. Mit anderen Worten: Hitchcock erzählt wieder in filmischen Bildern (was ihm bei Mr. & Mrs. Smith nicht gelungen war). Er erzählt die Geschichte von Linas Abhängigkeit, die durch Johnnies Abwesenheit nur noch gesteigert wird.

Und auch ihr Johnnie ist ein Abhängiger. Vom Spiel. Von Pferdewetten. Von Investitionsplänen. Vom Geld. Er hat genug Charme, um oft und lange damit durchzukommen. Selbst als er hohe Summen veruntreut, kommt er weitestgehend ungeschoren davon, mit einem Warnschuss. Ist ihm dies Warnung genug? Natürlich nicht. Der Süchtige braucht mehr und immer mehr. Und er sieht nicht, dass Lina ihn immer mehr braucht. 

Beaky (Nigel Bruce) ist dem Alkohol nicht abgetan, auch wenn es ihn das Leben kosten wird

Und dann ist da natürlich noch Beaky. Der offensichtlich alkoholabhängig ist, obwohl er weiß, dass Brandy ihn umbringt (eine Art allergischer Reaktion). Off-screen wird er an diesem Gift sterben. 

Keine Figur in diesem Film ist stark und in sich ruhend. Es sind Getriebene, die wir zu sehen bekommen und so folgen die Szenen auch in schneller, rastloser Abfolge aufeinander. Am Ende muss Johnnie buchstäblich auf die Bremse treten. Erst dann ist alles gut. 

Und damit bin ich einmal mehr beim Ende: Die Geschichte die hier erzählt wird, ist eine des zunehmenden Kontrollverlusts. Und Abhängige werden nicht einfach "durch eine Erklärung" von ihrer Sucht geheilt, wie am Ende dieses Films. Als ob Johnnie das wüsste, sagt er zu seiner Frau in der Schlussszene: "People don't change overnight, Lina!"

Fazit

Ein Ärgernis ist der Film. Für Hitch, für das Publikum, aber auch für Cary Grant, der seine Filmpartnerin Joan Fontaine nicht leiden konnte ("Grant and Joan Fontaine heartily disliked each other," schreibt Eyman [170-171]). Einmal soll Grant sie sogar, ungalant und äußerst untypisch für ihn, als "bitch" bezeichnet haben (Eyman 171). Im Film nennt Johnnie Lina so oft "monkey face", dass man ein Trinkspiel draus machen könnte (außer, wenn man wie Beaky allergisch auf Alkohol reagiert!). Das wird Grant dann sicher Vergnügen gemacht haben. Uns macht es das heute nicht mehr; die Respektlosigkeit, mit der er Lina behandelt, schmerzt aus heutiger Sicht einfach nur.

Es hat ihm dann wohl auch nicht gut gefallen, dass Fontaine, die zuvor schon für ihre Rolle in Rebecca 1941 für den Oscar nominiert gewesen war, auch 1942 für Suspicion nominiert wurde – und sogar gewann. Grant sollte nie einen Oscar gewinnen, sieht man von dem 1970 verliehenen Ehren-Oscar einmal ab. Er teilt damit das Schicksal von Hitchcock, dem die Auszeichnung verwehrt blieb (er ist damit in guter Gesellschaft, denn weder Franz Kafka, Virginia Woolf oder James Joyce gewannen je den Literatur-Nobelpreis; Preise, selbst hochrangige, gehen nicht unbedingt immer an die besten Leute).

Das Fazit fällt also enttäuschend aus. Guter Film, der durch ein miserables Ende völlig zerstört wird (Parallelen zu Fernsehserien wie Lost oder Game of Thrones drängen sich auf). Man muss eben nicht nur wissen, wann man aufhören soll, sondern auch wie. 

Denn das Ende durchkreuzt auch interessantere Lesarten des Films, etwa der, dass Linas Vater nicht einfach gestorben ist, sondern dass Johnnie seinen Schwiegervater ermordet hat. Aber mit diesem Ende ist das eigentlich keine sinnvolle Deutung mehr. Verschenktes Potenzial.

In der finalen Fassung ist das ein völlig unterdurchschnittlicher 5 Messer-Film. Alle fünf davon möchte man dem Production Code in den Rücken rammen... 

Films Mentioned (chronologische Sortierung)

Works Cited (alphabetische Sortierung)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Suspicion (1941), oder: Mit Milch gegen die Sucht." Hitchcock: Rewatch 2022, 26.09.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/09/suspicion-verdacht-milch-sucht.html

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