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Hitchcock #022: The Lady Vanishes (1938), oder: Züge, Zocker, Zauberflöten

Iris zieht die Notbremse, als ihr das Gaslighting zu viel wird

Der perfekte Film. The Lady Vanishes ist in vieler Hinsicht ein formal perfekter Film. Insbesondere sein Tempo (sein pacing, wie man sagt) wird von der Kritik stets als besonders gelungen hervorgehoben (exemplarisch hierfür: Adair 60; Callahan 86; Fuller 38). Zahlreiche Kritiker*innen bezeichnen diesen Film als einen ihrer absoluten Lieblingsfilme (etwa Philip French im Guardian) und Meta-Kritiken wie Rotten Tomatoes geben ihm beachtliche 98/100 Punkte. Auch in den heutigen Publikumswertungen erhält er Bestnoten. 

Dabei ist er nicht experimentell, sondern in seiner Struktur sehr klassischThe Lady Vanishes besteht aus einer herkömmlichen Drei-Akt-Struktur: Exposition im Gasthof, Hauptteil im Zug, Finale mit Schießerei zwischen Zug-Fahrenden und Gangstern. Im ersten Teil wird die Dame aus dem Filmtitel eingeführt, im zweiten verschwindet sie und im dritten (Spoiler!) taucht sie wieder auf. Eigentlich ganz simpel, aber das ist Perfektion ja meistens. Blicken wir also zu Beginn einmal auf dieses Verschwinden der Dame.

Vom Verschwinden

Die titelgebende Dame verschwindet im Film gleich zwei Mal, einmal gegen ihren Willen, einmal freiwillig (gespielt wird sie von Dame May Whitty, die 1865 geboren wurde; hier schaut das 19. Jahrhundert einmal kurz durch die Leinwand zu uns herüber). Unfreiwillig verschwindet Ms Froy ("it rhymes with joy," wie sie selbst sagt), als sie im Zug von den Gangstern betäubt und in Verbandszeug eingewickelt als Patientin getarnt wird. Freiwillig verschwindet sie am Ende bei der Schießerei durch das Hinterfenster, um sich (zu Fuß?) ihren Weg nach England zu bahnen (nun gut, sie ist halt eine Geheimagentin und mit Wahrscheinlichkeiten halten sich Hitchcocks Filme selten lange auf, wir akzeptieren also, dass eine alte Dame über tausend Kilometer sicher zu Fuß zurücklegen kann).

Ms Froy schreibt ihren Namen an die Fensterscheibe des Zuges. Wie sie selbst, wird auch ihr Name verschwinden

Doch Ms Froy ist nicht die einzige verschwindende Dame in diesem Film. Auch die weibliche Hauptfigur (großartig gespielt von Margaret Lockwood), Iris, verschwindet gewissermaßen zwei Mal in diesem Film. Einmal in diesem ländlichen Ruritanien (Bandrika genannt), einem fiktiven Balkanstaat, um ein letztes Mal vor ihrer Hochzeit das Leben in vollen Zügen (Wortspiel beabsichtigt) zu genießen. Ein zweites Mal am Ende, beim Epilog am Bahnhof, wenn sie sich vor den Blicken ihres Verlobten in die Arme des von ihr geliebten Gilbert (auch überragend: Michael Redgrave) flüchtet. Ihr Verschwinden ist die Flucht vor dem Patriarchat, dem Namen des Vaters (der seinen Namen mit dem Adelstitel des avisierten Ehemanns von Iris schmücken möchte; sie selbst hat bei dieser arrangierten Ehe kein Mitspracherecht, wer möchte es ihr verdenken, dass sie es vorzieht, zu verschwinden?). 

Iris verliert mehrfach die Besinnung, die Welt verschwimmt vor ihren Augen. Hier Doppelbelichtung von Ms Froy und Madame Kummer

Auch verschwindet die Welt zwei Mal vor ihren Augen,
da sie zwei Mal im Film das Bewusstsein verliert (einmal als Folge eines Schlages auf den Hinterkopf, einmal als Folge der psychischen Belastung).

Klassisches Pride and Prejudice-Prinzip: Zu Beginn des Films mögen sich Mann und Frau nicht, beleidigen sich sogar (hier Michael Redgrave). Und am Ende...? Nun, man ahnt es schon...

Es ist die männliche Hauptfigur, eben jener Gilbert, der nur einmal verschwindet. Am Anfang im Hotel, als Iris ihn in einer brüllend komischen Szene aus ihrem Zimmer schmeißt und er mit schelmischem Grinsen und den Worten "Confidentially, I think you're a bit of a stinker too" auf sein eigenes Zimmer geht. Er verschwindet, so könnte man denken, aus dem Film. Tatsächlich sehen wir ihn erst ca. 12 Minuten später wieder, wie er im billigsten Teil des Zuges Pfeife rauchend die Musik und Tänze der Mitreisenden studiert. Als armer Taugenichts ist sein Verschwinden von kurzer Dauer, denn die Lösung seiner finanziellen Probleme kommt in Form von Iris, der reichen Erbin eines Marmeladen-Imperiums. (Armut in Hitchcocks Filmen ist höchstens ein Tatmotiv, wie Marions Diebstahl in Psycho, als soziales Problem interessiert es den konservativen Filmemacher nicht; den reichgewordenen Regisseur der späteren Jahre im Übrigen auch nicht, da wird Armut zur unterhaltsamen Anekdote, etwa wenn er Truffaut gegenüber von seinen ersten, unterfinanzierten Regie-Erfahrungen beim Dreh zu The Pleasure Garden berichtet [Truffaut 29-34]).

... genau, am Ende vereint die wieder aufgetauchte Ms Froy das Paar: Gilbert (links) und Iris (rechts) können gegen den Willen von Iris Vater heiraten, da sie in Ms Froy eine Mutterfigur gefunden haben, die ihren Segen gibt

Frauen, so The Lady Vanishes, führen – ob gewollt oder ungewollt – immer ein Doppelleben. Ms Froy als Geheimagentin und Lehrerin; Iris als selbstbestimmte Frau und Frau die heiratet, damit ihr Vater, ein Industrieller, seinen Marmeladenprodukten ein Familienwappen hinzufügen kann. Aber auch die bösen Frauen: Da ist Madame Kummer, die einmal als die verschwundene "Ms Froy" unschuldig lächelnd präsentiert wird, dann ist sie wieder böse Intrigantin; oder die falsche Nonne, die aber über genügend Patriotismus verfügt, dass ihr das Töten von Engländern dann doch zu viel ist. Es sind in diesem Film eben die Damen, die verschwinden (oder sterben) – wegen ihres Doppellebens. 

Wie in Lady Vanishes traditionelle Geschlechterrollen und Familienhierarchien entgleisen

Slavoj Žižek hat bereits deutlich erläutert, dass es in klassischen Narrativen die Aufgabe der Männer ist, die Frauen zu locken – entweder in den Liebeshafen mit einer Zauberflöte (im Film: Gilberts Klarinette) oder in die Falle mit Magie (der Zauberer mit dem Bühnennamen "Der große Doppo" will im hinteren Zugabteil die Heldin in die Falle locken). Zur "Magie" der Bösen gehört fraglos auch das Gaslighting, die manipulative Strategie des männlichen Bösewichts, die Frau an ihrem eigenen Verstand und an ihrer Wahrnehmung zweifeln zu lassen. Kurz: Alle Männer locken die Frau Iris. Die sich aber nicht locken lässt, die beharrt und selbstbewusst genug ist, ihren Willen durchzusetzen. Sie schreckt dabei auch nicht davor zurück, den gesamten Zug zum Halten zu bringen. 

Chalders and Caldicott teilen sich das Bett; einer unten ohne (links), einer oben ohne (rechts)

Dazu kommen eine Reihe queerer Charaktere, die außerhalb der heteronormativen Logik stehen, wie etwa die beiden Chalders and Caldicott, die beim Publikum so beliebt waren, dass sie ihre eigenen Filme bekamen (mit denen Hitchcock dann freilich nichts mehr zu tun hatte). Sie teilen sich ein Bett zusammen, indem der eine oben-ohne, der andere unten-ohne liegt und sie teilen die Liebe für Cricket (eine Sportart, deren Fachsprache voll von mehrdeutigen Ausdrücken wie "maiden", "wicket maiden", "no ball" usw. ist)

Dieser Zug bietet einen erstaunlichen Querschnitt durch die Gesellschaft: alt und jung, arm und reich, hetero- und homosexuelle Menschen, Engländer und "die Anderen", Gute und Böse sowie Leute die in Oxford und solche, die in Cambridge waren (wie ein charmanter und mit Slapstick verbundener Witz gegen Ende des Films es ausdrückt). 

Als Helden(Zug)Reise zeigt The Lady Vanishes, wie sich eine Tochter schrittweise dem Willen ihres Vaters widersetzt und damit neben der Geschlechter- auch die Familienhierarchie hinterfragt. Sie will nicht den von ihrem Vater ausgesuchten Mann heiraten – dessen Namen bezeichnenderweise Sir Charles Fotheringale lautet, was sie durch Heirat zu einem "Fathering Gale", einem Vatertöchterchen , machen würde (siehe phonetischen Code links). Bereits ihr Geburtsname weist auf die Familienbeziehungen, sie ist der Sohn, den ihr Vater nie hatte, sie ist Iris Henderson. Durch die Heirat mit Gilbert wird sie zu Mrs. Redman (so wird Gilberts Nachname in allen gängigen Listen aufgeführt, wenngleich er im Film nicht genannt wird). Sie trägt bis zur Mitte des Films einen Schal mit ihren Initialen, die bestimmt vom großen "H" werden. Den legt sie erst ab (unmerklich und subtil), nachdem sie den Zug, der sie unaufhörlich ihrem Verlobten näherbringt, per Notbremse zum Halten gebracht hat.

Auch die männliche Hauptfigur, Gilbert, ist geprägt von Vaterkonflikten. Im Speisewagen hält er Iris mit Geschichten über seinen Vater bei Laune ("You know, it's remarkable how many great men began with their father"). Er hat von seinem Vater nichts geerbt (außer seine Liebe zur Musik: "It was all he left me") – und auch er wird sich dem Willen des Vaters, mittellos zu leben, widersetzen, indem er Iris heiratet. 

Bis zur Hälfte des Films trägt Iris den Schal mit den Initialen ihres Nachnamens: I.H.

Es braucht dafür das Korrektiv des mütterlichen Willens, der zusammen mit Ms Froy aus dem Film verschwunden ist. Erst nachdem diese Mutterfigur befreit wurde, kann der Vater besiegt werden.

Die Familie des Bösen, die böse Familie

Interessanterweise werden nur die Bösen als eine intakte Familie dargestellt. Unter der Bande ist eine Mutter mit Kind und beide schauen stets finster. "Family is central to The Lady Vanishes," schreibt Maurice Yacowar. "Here family is the metaphor for the international community of man, which the villains seek to disrupt." Die Disruption erfolgt durch das gezielte Entziehen des mütterlichen Willens (in Form von Ms Froy). Erst nach ihrer Rettung können auch die britischen Charaktere eine intakte Familie wiederherstellen.

The Lady Vanishes als die Mutter aller Zug-Filme

Mehrfach war bereits die Rede von dem Zug. Denn The Lady Vanishes ist ein Zug-Film, "one of the best of all train movies", wie Dan Callahan schreibt (85) und das will was heißen, da es viele sehr gute Zugfilme gibt, wie etwa The Black Windmill, The Commuter oder Snowpiercer (vielleicht auch der gerade in den Kinos laufende Bullet Train, den kenne ich noch nicht). Der größte Teil des Films spielt in einem Zug, der von besagtem "Bandrika" nach England fährt (oder doch zumindest nach Calais von wo aus die Fähre nach Dover ablegt). 

Dreharbeiten zu The Lady Vanishes: Natürlich ist der Zug im Studio nachgebaut worden. Es ist ja bekannt, dass Hitchcock (auf dem Sitz, rechts) nicht gerne on location drehte

Hitchcock hat natürlich den Zug nachgebaut (seine Abneigung gegen on location-Aufnahmen war kein Geheimnis), so dass der Film fast vollständig ein Studio-Film ist. Auch der establishing shot zu Beginn des Films verwendet ein elaboriertes Modell (man sieht es mit geschultem Auge natürlich; dennoch ist das Modell des eingeschneiten Bahnhofs sehr beeindruckend). Es wirkt tatsächlich sehr echt.

Der Zug als Metapher ist fraglos nichts Neues. Außen bewegt er sich, während seine Passagiere im Inneren reglos bleiben. Er passiert Grenzen, wo das den Passagieren nicht (immer) gut gelingt. Mit seiner Einteilung in 1. und 2. (und manchmal sogar 3.) Klasse bietet er einen Querschnitt durch die Gesellschaft (die hier sauber getrennt ist, nur einmal bewegt Iris sich in die 3. Klasse). Er ist auch oft in dieser Hinsicht interpretiert worden, wie erst kürzlich in einem französischen Band über Hitchcock: "Nous pourrions dire que ce train est une métaphore du vivre ensemble dans une situation de crise" ["Wir könnten sagen, dass der Zug eine Metapher für das Zusammenleben in einer Krisensituation ist"] (Barbé-Petit / Dubrac 2021; meine Übersetzung)

Er ist ein geschlossener Raum und daher häufiger in Krimis und Thrillern zu finden: etwa in Stamboul Train  (Graham Greene, 1932) und natürlich am bekanntesten in Mord im Orientexpress (Agatha Christie, 1933). Tom Ryall nennt noch "Seven Sinners (Albert de Courville, 1936), Oh Mr. Porter! (Marcel Varnel, 1937), and Night Train to Munich" als Filme, "[which] used the railway as a framework for their drama or comedy" (284). Der letzte in der Reihe sogar erneut mit Margaret Lockwood (wenngleich in einer anderen Rolle) sowie Charters (Basil Radford) und Caldicott (Naunton Wayne).

Der Zug fährt los (und es gibt eine Menge Rückprojektionen)

Hitchcock liebte Zugfilme. In Number Seventeen ließ er (wenngleich verwirrend für das Publikum) Züge entgleisen (siehe meinen Artikel dazu). In The 39 Steps ist der Zug auch der Ort des ersten Kusses zwischen den beiden Hauptfiguren (siehe meinen Artikel dazu). Später wird er Züge einsetzen in Filmen wie Shadow of a Doubt (1943), North by Northwest (1959; wo das Einfahren des Zuges in den Tunnel den sexuellen Akt symbolisiert) und natürlich, am prominentesten, in Strangers on a Train (1951), der den Zug bereits im Titel trägt. In seinem Spätwerk fehlen die Züge interessanterweise. Fünf Jahre nach dem letzten Zug in Hitchcocksfilmen, "geht Marnie nur noch einen leeren Bahnsteig entlang," wie Lars-Olav Beier bemerkt (295).

Inhaltsangabe von Hitchcocks The Lady Vanishes:

Akt 1: Eine Lawine behindert die Weiterfahrt des Zuges. Die Reisenden müssen daher notgedrungen die Nacht in einem Gasthaus verbringen. Dort verbringt Iris Henderson ihren Junggesellinnenabschied, eine ältere Dame, Ms Froy, macht sich auf die Rückreise nach England, nachdem sie viele Jahre als Lehrerin in Bandrika gearbeitet hat und ein charmanter, gebildeter, aber mittelloser Gilbert zieht mit seiner Klarinette wie ein Bela Bartok über das Land und sammelt Volksweisen. Die Charaktere lernen sich auf humorvolle Weise kennen. Gilbert und Iris sind, das erkennen wir sofort, wie Lizzy Bennet und Mr Darcy: Sie können sich nicht ausstehen (und werden am Ende des Films heiraten). Der Akt endet damit, dass ein Sänger, der nachts vor dem Fenster des Gasthofs singt, erwürgt wird.

Mal wieder wird bei Hitchcock heftig gewürgt (siehe Label Würgen in diesem Blog): Der Tod des Sängers beendet die Exposition des Films

Akt 2: Die Zugfahrt. Iris fällt unmittelbar vor Betreten des Zuges ein Ziegelstein auf den Kopf. Ihr wird schwindelig. Im Abteil kommt sie mit der alten Dame (The Lady aus dem Titel), Ms Froy, ins Gespräch, trinkt im Speisewagen Tee mit ihr und geht dann zurück auf ihren Platz, wo sie einschläft. Als sie wieder erwacht, ist Ms Froy fort. Sie fragt herum, ob jemand ihre Freundin gesehen habe, aber alle antworten, dass Iris allein gewesen sei und mit niemandem gesprochen habe. Hat Iris sich Ms Froy am Ende nur eingebildet? Bei der Suche nach der Wahrheit hilft ihr Gilbert. Hitchcock, der wie gewohnt mehr auf Suspense als auf Surprise setzt, löst für das Publikum schnell auf, dass Ms Froy wirklich an Bord des Zuges war und dass die anderen Mitreisenden aus den unterschiedlichsten Gründen Gaslighting betreiben. Es gelingt Gilbert und Iris Ms Froy wiederzufinden: Sie war betäubt und bis zur Unkenntlichkeit in Mullbinden eingewickelt worden, um sie als "Patientin" eines im Zug befindlichen Arztes ausgeben zu können (der in Wahrheit Teil der Verschwörung ist). 

Akt 3: Die Bösen merken, dass ihr Spiel durchschaut worden ist. Sie leiten den Zug auf ein Nebengleis und liefern sich mit den Insassen eine Schießerei. Ms Froy flieht durch ein Hinterfenster und will es auf eigene Faust nach England schaffen. Die Guten können um Haaresbreite entkommen.

Am Ende wird der Zug belagert und es kommt zu einer Schießerei zwischen "den Guten" im Zug und "den Bösen" vor dem Zug

Epilog: Wieder in England gestehen sich Iris und Gilbert ihre Liebe. Wo ist Ms Froy? Gerade als Gilbert dem Auswärtigen Amt die als Lied getarnte Geheimbotschaft überbringen will, merkt er, dass  der Hochzeitsmarsch als Ohrwurm alle Erinnerung an das richtige Lied ausgelöscht hat. Letzte Szene, Ms Froy am Klavier, spielt dem Botschafter das Lied vor und vereint Iris und Gilbert in mütterlicher Geste zu einem Brautpaar. 

Remakes und Pastiches von The Lady Vanishes

Die Geschichte wurde oft wiederholt. Da sind direkte Remakes von Hitchcocks The Lady Vanishes, wie etwa die BBC-Produktion von 2013 oder der Spielfilm von 1979 mit Angela Lansbury

Angela Lansbury (links) als Ms Froy, die ihren Namen auf das Zugfenster schreibt (1979)

Mit Charters und Caldicott erhielten auch zwei Charaktere aus The Lady Vanishes eigene Filme, Spinoffs sozusagen. Die Webseite chartersandcaldicott.co.uk gibt Auskunft über das Nachleben dieser zwei Cricket-Fans.

Patricia Hitchcock (Hitchcocks Tochter) in der Fernsehfolge "Into Thin Air", die das gleiche Thema wie The Lady Vanishes behandelt, auch hier verschwindet eine alte Dame spurlos

Hitchcock selbst veröffentlichte 1955 in seiner Show Alfred Hitchcock Presents (S01 Ep05) eine Folge namens Into Thin Air, die auch das Verschwinden einer Dame beinhaltet, hier die kranke Mutter, die von ihrer Tochter gesucht wird (welche von Hitchcocks eigener Tochter, Patricia "Pat" Hitchcock gespielt wird). 

Zahlreiche Filme haben eine sehr ähnliche Handlung wie The Lady Vanishes, ohne direkte Remakes zu sein. Hier eine kleine Auswahl solcher Filme aus drei Jahrzehnten und jedes Mal hochkarätig besetzt, wie man sieht

Aber auch Filme anderer Regisseure, die keine direkten Remakes sind, aber durchaus ein ähnliches Thema haben, zeugen von der Langlebigkeit dieses Erzählstoffs. Da sind Filme wie Otto Premingers Bunny Lake Is Missing, Roman Polanskis Frantic (mit Harrison Ford) oder Flightplan (mit Jodie Foster), um nur einige zu nennen. Das Thema bleibt beliebt, wobei ich mir denken könnte, dass die Popularität von Narrativen, in denen eine einzelne Person standhaft gegen die (vermeintliche oder tatsächliche) Verschwörung einer bösen Gesellschaft ankämpft, in den letzten Jahren stark nachgelassen haben dürfte – das klingt dann vielleicht doch schnell nach Verschwörungstheorie und Schwurbelei. Ein Film, der heute das Motiv aufgreift, muss diese Bezüge sorgfältig tilgen.

Fazit: 

The Lady Vanishes ist ohne jede Frage mein Lieblingsfilm aus Hitchcocks britischer Phase (die Filme von 1925 bis 1939). Es gibt nur einen anderen Hitchcock-Film, den ich noch mehr schätze als The Lady Vanishes (ich sage noch nicht, welchen). Er gehört auch zu meinen Top 3-Lieblingsfilmen aller Zeiten. Ich schaue ihn mindestens einmal im Jahr und denke, dass ich ihn ja kenne. Und dennoch überrascht er mich immer wieder. Sein Tempo, sein Witz, seine Liebe zum Detail, das Schauspiel-Ensemble. 

Genau so ging es vielen anderen Zuschauer*innen, die dem Film verfallen sind; Truffaut etwa gestand Hitchcock: "Es kommt vor, dass ich ihn mir zweimal in einer Woche anschaue. Und jedes Mal sage ich mir: Da ich ihn ja auswendig kenne, werde ich mich nicht um die Geschichte kümmern [...] Und jedes Mal bin ich wieder so gefesselt von den Personen und der Handlung, dass ich immer noch nicht weiß, wie der Film gemacht ist" (Truffaut 105). Und Hitchcock-Biograf Donald Spoto bezeichnet The Lady Vanishes als Hitchcocks "most famous English picture" und das Drehbuch zum Film als "one of his best scripts ever" (n. pag.). Dan Callahan nennt den Film "the masterpiece of his British period" (84) und "a Hitchcock movie that everybody loves" (89). Die Liste derjenigen, die für den Film schwärmen ist sehr lang...

Und auch ich gerate bei The Lady Vanishes regelmäßig ins Schwärmen. Es ist auch der "alte" Film, den ich Leuten empfehle, die glauben, dass das Kino erst ab 1980 langsam anfängt interessant zu werden und alles davor halt "langweilig" sei (und ich darf anmerken, dass dieser Film noch jede*n überzeugt hat!).

Was ist das für ein Segen, diesen Film sehen zu dürfen. Wer ihn noch nicht kennt, kaufe sich schnell eine Zugfahrkarte und verschwinde in der wunderbaren Welt von Hitchcocks The Lady Vanishes.

10 Messer.

Films Mentioned (chronologische Reihenfolge)

Works Cited (alphabetische Sortierung)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Hitchcocks The Lady Vanishes (1938), oder: Züge, Zocker, Zauberflöten." Hitchcock: Rewatch 2022, 08.09.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/08/the-lady-vanishes.html.

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