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Hitchcock #015: Number Seventeen (1931), oder: Was zum ...

Auch das Publikum möchte bei Number Seventeen am liebsten schreien...

François Truffaut sagte über Hitchcocks Number Seventeen: "Er ist amüsant, aber die Handlung ist recht konfus" (Truffaut 71). Damit stellt Truffaut einmal mehr seinen filmkritischen Scharfblick unter Beweis. Hitchcock, als Kritiker seiner eigenen Filme nicht immer ganz so sehr auf den Punkt wie sein französischer Gesprächspartner, nennt den Film schlicht "Eine Katastrophe" (ibid.) und wechselt sofort ins Anekdotische. Das Anekdotische bei Hitchcock ist ein eigenes Thema, über das ich später gesondert schreiben werde. Es bringt stets seinen Unwillen zum Ausdruck, über das eigentlich Filmische zu sprechen. Das Anekdotische bei Hitchcock ist immer eine Ersatz- oder Übersprungshandlung. Die Reflexhaftigkeit dieses Ausweichmanövers lässt sich entweder als einstudiert verstehen (womit die Anekdote Teil der Kunstfigur "Alfred Hitchcock" wird) oder als authentischer Ausdruck eines Unwillens und Missfallens, über den eigentlichen Gegenstand zu sprechen (womit die Anekdote Scham oder Unkenntnis offenbart). 

Bei Number Seventeen kokettiert Hitchcock nicht. Er ist aufrichtig entsetzt von diesem Film und er fühlt sich durch Truffauts präzises Urteil ("amüsant aber konfus") ertappt. Drum weicht er ins Anekdotische aus und erzählt von einer nichtrealisierten Szene, bei der Katzen von einem Schusswechsel aufgescheucht, treppauf und treppab laufen: "eine amüsante Geschichte," so Hitch zu Truffaut (71), womit er dessen Urteil ("amüsant") aufgreift.

Nicht alle Modelle sehen überzeugend aus. Hier eine Fähre und der entgleiste Zug... sichtbares Spielzeug...

Number Seventeen (dt. Nummer siebzehn) ist ein Film, den Hitchcock nicht gerne gemacht hat. Biograf Donald Spoto berichtet sogar von Hitchcocks Wut, diesen Film überhaupt machen zu müssen: "Hitchcock was furious at having to take it on, for it was a bundle of clichés" (Spoto). Der Grund für seinen Zorn: Hitch wollte einen ganz anderen Film drehen, London Wall von John Van Druten. Den gab seine Produktionsfirma BIP aber an den Regisseur Thomas Bentley und London Wall kam auch 1932 in die Kinos, als After Office Hours (ich konnte keine Kopie dieses Films auftreiben; falls er noch existiert, freue ich mich über Hinweise!). Spoto sagt, dass mit der Übergabe von London Wall an Bentley, "the project was perversely handed over to another BIP director [Bentley], one who wanted to do Number Seventeen" (Spoto). Und so kam kein guter Film dabei heraus: "Number Seventeen war wirklich ein schlampig gemachter Film," urteilte Hitchcock später (Truffaut 74).

Ben (Leon Lion) sorgt für den comic relief

Und mit der entsprechenden Lustlosigkeit konnte aus Hitchcocks Number Seventeen kein guter Film werden. Spoto schließt sich Truffauts Urteil an, wenn er über die Reaktionen der Zuschauer*innen schreibt, "one can easily see why people were confused and disappointed" (Spoto). Und auch das heutige Publikum zuckt bei diesem Film fragend mit den Schultern: "What the hell is going on...? What...??" (Presenting Hitchcock Podcast 03:44). Oder das Urteil "Number Seventeen (1932) makes no sense" (YouTube) mit dem Hinweis, dass es oft zwei Anläufe braucht, um überhaupt durch diesen gerade einmal 65 Minuten langen Film durchzukommen. Geoffrey Macnab, in der Fachzeitschrift Sight and Sound, nannte den Film im Jahr 2001 rückblickend "A rare Hitchcock misfire" (61).

Inhaltsangabe von Hitchcocks Number Seventeen

Normalerweise ist das Schreiben der Inhaltsangabe der einfachste Teil. Bei Number Seventeen ist es nicht immer leicht zu sagen, was genau passiert oder wieso die Figuren handeln, wie sie es tun. 

Treppe runter, rein in den Zug, dann kann die zweite Film-Hälfte beginnen: Der Action-Teil des Films

Auf IMDB wird die Handlung so zusammengefasst: "A gang of thieves gather at a safe house following a robbery, but a detective is on their trail." (imdb.com). Es klingt banal, aber viel besser wird es mir auch nicht unbedingt gelingen... los geht's.

Alles beginnt in dem verlassenen und baufälligen (titelgebenden) Haus Nummer 17. Dort sucht (wie man erst viel später erfahren wird) ein Polizist (John Stuart, der die Hauptrolle in Hitchcocks erstem Film, The Pleasure Garden, gespielt hatte) nach einer Bande von Juwelendieben, trifft aber nur auf den Obdachlosen (?) Ben (Leon M. Lion, der für den comic relief in diesem Film gut sein wird, immerhin sagte Truffaut treffend: "amüsant"). Oben auf dem Treppenabsatz liegt eine Leiche. Kaum haben sich der Polizist und Ben eingekriegt, fällt eine Frau durch das Dach (Ann Casson). Das ist merkwürdig. Aber es gibt kaum Zeit, die Umstände des Dachsturzes zu klären, denn schon stehen drei Fremde vor der Tür, zwei Männer und eine angeblich taubstumme Dame (die gar nicht taubstumm ist, weil... ja weil... es wird schon einen Grund geben: Anne Grey). Sie betreten das Haus und plötzlich ist die Leiche verschwunden. Es sind Gangster, die Juwelendiebe. Die wollen mit der Beute fliehen, mit dem Zug zur Fähre und dann außer Landes. Eine Verfolgungsjagd, ein Zugunglück, die Rettung Ertrinkender, die Guten (?) haben gesiegt, ein Glück, der Film ist zu Ende.

Fazit

"Where Alfred Hitchcock went wrong with Number Seventeen is unclear, but go wrong he did," schreiben Jim McDevitt und Eric San Juan in ihrem Buch A Year of Hitchcock: 52 Weeks with the Master of Suspense, das ein ganz ähnliches Projekt wie mein Blog verfolgt, einen chronologischen Re-Watch aller Hitchcock-Filme. Ich würde dieser Einschätzung widersprechen, denn die Frage, wo genau dieser Film aus dem Ruder läuft, ist leicht zu beantworten: Von der ersten Sekunde an interessiert er sich nicht für die Charaktere und nicht für den Plot. "Number 17 is nearly all MacGuffin" (Callahan 54), also ein Film, dessen gesamte Handlung irrelevant ist. Der Film ist bestenfalls, eine Stilübung in Stimmung. 

Da ist viel Expressionismus, viel chiaroscurohaftes Schattenspiel, viel Wind auf der Tonspur, der durchs düstere Haus heult, viele Nahaufnahmen von bedeutungsvoll schauenden Gesichtern (den Grund für ihr Blicken erfahren wir fast nie). Das Ganze erinnert nicht wenig an die Edgar Wallace-Filme der 1960er Jahre, dort endete schließlich auch jede zweite Szene mit einem close-up auf das Gesicht von Klaus Kinski (und im selben Jahr wie Number Seventeen, 1931, produziert Hitchcocks ehemalige Hauptdarstellerin Anny Ondra in Deutschland ihren ersten Edgar Wallace-Film, wobei sie auch ein paar Londoner Außenaufnahmen aus Hitchcocks Blackmail verwendet -- ich habe hier ausführlich darüber geschrieben)

Hitchcocks Number Seventeen als Schattenspiel: Erbe des deutschen expressionistischen Kinos
Chiaroscuro in Number Seventeen
Eine Prise Film Noir in Hitchcocks Number Seventeen gibt es auch

Kurz, man könnte Hitchcocks Number Seventeen durchaus vorwerfen, kein Spielfilm zu sein, sondern mehr eine Art Poesiefilm. In seinen besten Momenten erinnert er an Un chien andalou von Luis Buñuel oder Jean CocteauLe sang d'un poète (1930), wenn Absurdes passiert und neue Figuren buchstäblich vom Himmel fallen oder ein Zug durch eine Wohnung fährt. Manchmal scheint er Nosferatu von Murnau zu zitieren. Ein wenig nimmt er den späteren Film Noir-Stil vorweg.

Und dann ist da die zweite Hälfte des Films: Ein lupenreiner Action-Film mit Pistolen, Gangstern, Polizisten, einem entgleisenden Zug, einer Verfolgungsjagd, einem Finale, bei dem der Held die Frau vor dem Ertrinken retten kann. Manche Effekte sind auch heute noch überzeugend, andere wirken grob lächerlich (und auch darin ähnelt Number Seventeen den Edgar Wallace-Filmen aus der Rialto-Zeit).

Das Erschießen von Lokführern während der Fahrt ist strengstens untersagt

Wie gesagt: Der Zug entgleist am Ende. Der Film bereits am Anfang. Wenn Hitchcock sich überhaupt nicht für die Handlung und die handelnden Figuren interessiert. Er ist ein faszinierendes Zugunglück (das übrigens Elemente von Hitchcocks späterem Meisterwerk The Lady Vanishes vorwegnimmt, etwa das Erschießen des Lokführers). Man kann irgendwie nicht wegschauen. Verstehen aber wird man nichts. Dieses Scheitern ist jedoch  so beeindruckend und so verwirrend zugleich, dass man Number Seventeen nicht gleichgültig gegenüberstehen wird. Daher 3 Messer. 

Films Cited/Mentioned (in chronologischer Reihenfolge)

  • Nosferatu (dir. F.W. Murnau) (1922)
  • The Pleasure Garden (dir. Alfred Hitchcock) (1925)
  • Un chien andalou (dir. Luis Buñuel) (1929)
  • Blackmail (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
  • Le sang d'un poète (dir. Jean Cocteau) (1930)
  • Rich and Strange (dir. Alfred Hitchcock) (1931)
  • Der Zinker (dir. Karel Lamač und Martin Frič) (1931)
  • Number Seventeen (dir. Alfred Hitchcock) (1932)
  • After Office Hours (dir. Thomas Bentley) (1932)
  • The Lady Vanishes (dir. Alfred Hitchcock) (1938)

Works Cited (alphabetische Reihenfolge)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

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Kronshage, Eike. "Hitchcocks Number Seventeen (1931), oder: Was zum...?Hitchcock: Rewatch 2022, 29.06.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/06/hitchcock-015-number-seventeen-1931.html.

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