Direkt zum Hauptbereich

Hitchcock #014: Rich and Strange (1931), oder: Reich an strangen Ideen

Die Katastrophe schweißt das Ehepaar wieder zusammen: Fred und Emily im Eheglück (von kurzer Dauer)

Warte mal. Der Held dieses Films von AlFRED Hitchcock heißt FRED? Und seine Ehefrau Emily Hill (was nicht ohne Ähnlichkeit zu Alma Reville ist). Das ist doch nicht am Ende ein biografischer Film über die Ehe der Hitchcocks? Und tatsächlich wird er oft als solcher gelesen, als "a more personal movie" (Callahan 44), als ein "privater Blick auf den Menschen hinter der Persona Hitchcock"  (Kriest 268), und als "one of his most openly autobiographical films" (Donald Spoto), dessen Verständnis, so Spoto weiter, "some kind of biographical Rosetta stone" erfordere - eben das Wissen um die Ehe von Alfred und Alma.

Aber langsam, langsam! Wir wissen schließlich, der Autor ist tot (Barthes), jeder Schluss auf seine Intention ein Fehlschluss (Wimsatt/Beardsley) und der Autor selbst ohnehin nur eine diskursive Funktion (Foucault). Hüten wir uns also, Rich and Strange (dt. Endlich sind wir reich) als einen autobiografischen Film zu lesen. Wir wissen ja auch, dass Hitchcock zeitlebens immer wieder bemüht war, die Kunstfigur "Alfred Hitchcock" zu erschaffen, den freundlichen britischen Gentleman, der mit gewisser Kauzigkeit in liebenswertem Ton über die schlimmsten Dinge redet, als seien es die Cricket-Ergebnisse. Und es steht zu vermuten, dass Hitchcock nicht immer deckungsgleich mit dieser Kunstfigur ist.

Aber Rich and Strange ist tatsächlich ein Ehe-Film. Szenen einer Ehe. Die Ehe der Hills. Die gehören der unteren Mittelschicht an, gelangen aber plötzlich zu Geld. Aber der Reihe nach...

Inhaltsangabe zu Hitchcocks Rich and Strange (1931)

Fred Hill (großartig: Henry Kendall) ist Angestellter in einem Büro (dessen maschinelle Abwicklung der Arbeit kafkaeske Züge hat). Bei der Arbeit läuft es nicht so richtig und in der Ehe mit Emily (Joan Barry, deren Stimme wir schon als die Synchro von Anny Ondra in Blackmail kennen) auch nicht. Da kommt ein Brief eines reichen Erbonkels gerade recht: Er sei zwar noch nicht tot, aber wieso seinem Neffen Fred nicht schon jetzt das Erbe zukommen lassen? Endlich sind wir reich (so der deutsche Titel des Films).

Da Geld Geltungskonsum erforderlich macht (Thorstein Veblen nennt es "conspicuous consumption"), packen die Hills also sofort ihre Koffer und gehen auf Weltreise. An Bord des Kreuzfahrtschiffs lernt Fred die geheimnisvolle "Prinzessin" (Betty Amann) kennen und Emily den Gentleman Mr. Gordon (Percy Marmont). Beide Hills beginnen jeweils eine Affäre, was ihre Ehe belastet, so dass es zu einer Trennungsszene kommt.

Diese Trennung wird nur dadurch verhindert, dass Gordon sich, Gentleman der er ist, zurückzieht und die Prinzessin sich als Betrügerin erweist, die Fred um sein Geld gebracht hat. Pleite treten sie die Heimreise an, als ihr Schiff Schiffbruch erleidet. Von einem chinesischen Fischkutter aufgenommen, gelingt es ihnen, nach England zurückzukehren. Kaum sind sie zuhause angelangt, streiten sie sich schon wieder über das Menü des Abendessens. Und da endet der Film.

Cinematografie in Hitchcocks Rich and Strange

Gleich zu Beginn des Films kann sich Hitch befreien von den lästigen Theaterfilmen mit ihrer ideenarmen Bildsprache, die er zuvor gedreht hatte (The Skin Game und, ganz und gar entsetzlich, Juno and the Paycock). Er zeigt uns mit dem ersten Bild ein Bilanzbuch. Wie langweilig? Genau, wie langweilig! 

"Why does it always rain on me" sang einst Travis. Diese Frage könnte sich auch Fred stellen, dessen Regenschirm nicht aufgeht

Diese Langeweile empfindet auch Fred, der in einem Großraumbüro sitzt und sehnsüchtig auf den Feierabend wartet (Bild: Eine große Bürouhr). Dann endlich ist es soweit und es kommt Bewegung in das Büro. Alle springen auf, drängen nach draußen, Fred mittendrin. Es ist London, also regnet es. Alle spannen ihre Regenschirme auf, nur nicht Fred, dessen Schirm klemmt. Wir verstehen durch dieses phallische Bild, Indikator seiner Impotenz, dass der Wunsch des herbeigesehnten Feierabends und die Wirklichkeit desselben nicht übereinstimmen. 

"De Zoch kütt", wie man im Rheinland sagt: Hier die einfahrende U-Bahn, mit Blick auf die wartende Fahrgäste

Hinunter geht es in den Underground mit einigen beeindruckenden Szenen von Rolltreppen und von einer einfahrenden U-Bahn, wobei die Kamera auf die Bahn montiert zu sein scheint und bei der Einfahrt die dicht gedrängten Menschen am Bahnsteig filmt. Die U-Bahn ist überfüllt. Der durchnässte Fred bekommt keinen Sitzplatz und macht sich durch sein ungeschicktes Verhalten die anderen Fahrgäste zum Feind. Sein sehnsüchtiger Blick nimmt Zuflucht zu den Reklameschildern in der Bahn, die ein Leben in Luxus versprechen. 

Dann kommt er zuhause an und nach vier Minuten Film hören wir die ersten gesprochenen Worte. Film pur. 

Ja, ähm, lecker... 

Es geht um das Abendessen: Steak and Kidney-Pudding. Das alles will Fred aber nicht. Er will "the good things in life" und zeigt auf das Bild eines Schiffs. Und hier, nach vier Minuten exzellentem Stummfilmkino, setzen die geschliffenen Dialoge ein, die von Hitch selbst stammen (ich habe die Vorlage von Dale Collins nicht gelesen, da sie vergriffen scheint, und kann daher nur vermuten, dass Hitchcock sehr viel Eigenes hinzugefügt hat; Donald Spoto mutmaßt sogar, dass das vielleicht am Ende keine richtige Quelle sei: "The credits mention an 'idea by Dale Collins,' but it is impossible to identify him or his particular contribution"). Wenn der frustrierte Fred mit gewisser Theatralik davon spricht, man könne doch ebenso gut den Gashahn aufdrehen, reagiert seine Frau ganz ruhig und erinnert ihn daran, dass man doch ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und ein warmes Bett habe. Dieser kleine Dialog und Barrys ruhige Art der Reaktion zeigen sofort, dass dieses Gespräch nicht zum ersten Mal stattfindet. Freds Frust ist aufgestaut

Es ist immer gut, einen Erbonkel zu haben: Endlich sind wir reich! 

Der erlösende Brief des Onkels, der Fred das Geld vermacht, beginnt mit den Worten "I've thought a lot about our conversation of the other day", und so wissen wir, dass Fred seinen Frust nicht nur bei seiner Frau, sondern auch bei seinem Onkel (und vermutlich bei einer Reihe anderer Leute) abgeladen hat. 

Die eigentliche Reise beginnt mit dem ersten Zwischentitel des Films. Denn Hitchcock vertraut hier nicht nur auf die Macht des Bildes, wie in seinen früheren Stummfilmen, sondern auch auf das vom Tonfilm abgelöste Mittel der Zwischentitel. Oft geben diese nur den Ort an, was sich ebenso gut über den Dialog hätte lösen lassen. Aber so wie der Film einen Wandel von einem Leben zum nächsten schildert, bei dem man doch letztlich nicht aus seiner Haut kann, so ist auch Rich and Strange ein Film, der den Übergang von Stumm- zu Tonfilm markiert und dabei die Sprache des Alten im Neuen präsentiert. Die Titel sind eigentümlich und bringen dem Plot nicht das Geringste. Es ist reine Metafiktion, die uns alle 3-4 Minuten erinnert: Wir sehen einen Film! 

So viel zu sehen. Die Hills wissen gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollen
Die selbe Technik verwendet Hitchcock später in The Birds.

Was der Film an visuellen Ideen auf seinen gerade mal 82 Minuten präsentiert ist zu dicht, um es hier zu besprechen. Mit anderen Worten: Rich and Strange ist wirklich reich (rich: an Ideen) und seltsam (strange: die Ideen sind oft bizarr). 

Späteres wird vorweggenommen. Etwa, wenn die Hills, offensichtlich an einem Stendhal-Syndrom leidend, vor lauter Sehenswürdigkeiten gar nicht mehr wissen, wo sie zuerst hinschauen sollen und Hitchcock immer wieder auf ihre Köpfe schneidet, die statisch mal in die eine, dann in die andere Richtung blicken. Die Statik des Blicks bei gleichzeitiger Dynamik des Schnitts erinnert an die berühmte Szene mit der explodierenden Tankstellen in The Birds

Aber auch rückwärts wird geschaut. Etwa wenn die Hills in den Folies Bergère einer Tanz-Darbietung zusehen und die fliegenden Beine der Tänzerinnen in Nahaufnahme gefilmt werden. Das blickt 6 Jahre zurück, zu Hitchcock The Pleasure Garden, seinem ersten eigenen Film, der mit genau dieser Einstellung eröffnete. 

Rich and Strange: Es wird das Tanzbein geschwungen

The Pleasure Garden: Auch in Hitchcocks erstem Film wurde das Tanzbein geschwungen

Am Ende dann, wie gesagt, Schiffbruch, Rettung durch ein chinesisches Fischerboot und dann, leider, die für die damalige Zeit nicht unübliche Prise Alltagsrassismus. Die geretteten erhalten eine Mahlzeit, die sie gierig verschlingen, bis sie begreifen, dass die chinesische Mannschaft ihnen Katzenfleisch serviert hat, woraufhin die Hills angewidert alles ausspucken. Diese Witze sind natürlich extrem schlecht gealtert. Sie sind ärgerlich, weil der Film zu gut ist, um das nötig zu haben. Schade! 

Fazit

Das ist ein vergnüglicher Film. Er ist kurz, er ist witzig, er ist voller Ideen. Ich kann verstehen, dass Hitchcock enttäuscht war von der Kritik, die dem Film nicht gnädig gegenüber stand: "Ich war sehr enttäuscht gewesen über den Misserfolg von Rich and Strange," sagte er später zu Truffaut (Truffaut 74). Und er sollte, nicht ganz gerecht, wie ich finde, die Schuld dafür den Hauptdarsteller*innen in die Schuhe schieben: "Mein Irrtum bei Rich and Strange war, dass ich mich nicht vorher vergewissert hatte, ob die beiden Hauptdarsteller dem Publikum und auch der Kritik zusagten. Bei einer solchen Geschichte konnte ich mir einfach keine mittelmäßige Besetzung erlauben" (Truffaut 75).

Der Film ist reich(haltig) und strange im guten Sinne. Er zündet ein Kreativfeuerwerk an visuellen Einfällen ab. Er vermischt Stummfilmästhetik mit messerscharfen Dialogen und er hat ein durchweg gutes bis exzellentes Ensemble. Das alles macht ihn auch heute noch sehenswert, nicht nur für Hitchcock-Fans. Und auch Hitchcock, der gerne den Stab über sein Frühwerk bricht, hat für diesen Film eher positive Worte: "Ich mag den Film," sagte er zu Truffaut, "und er hätte Erfolg verdient gehabt" (Truffaut 71).

Insgesamt gebe ich dem Film 5 von 10 Messern. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich Rich and Strange nicht zum letzten Mal geschaut habe. 

Films Cited/Mentioned (in chronologischer Reihenfolge)

  • The Pleasure Garden (dir. Alfred Hitchcock) (1925)
  • Blackmail (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
  • Juno and the Paycock (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
  • Rich and Strange (dir. Alfred Hitchcock) (1931)
  • The Birds (dir. Alfred Hitchcock) (1963)

Works Cited (alphabetische Reihenfolge)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Hitchcocks Rich and Strange (1931), oder: Reich an strangen Ideen.Hitchcock: Rewatch 2022, 25.06.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/06/hitchcock-014-rich-and-strange-1931.html.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Hitchcock #030: Lifeboat (1944), oder: Hitchcocks Floß der Medusa

Man ist sicher nicht überrascht, dass Hitchcock es schafft, zu schockieren : Ein Messer unter der Dusche, bedrohliche Vogelschwärme, eine Verschwörung im Zug... all das identifizieren wir als "typisch Hitchcock", all das schockiert auf seine je eigene Weise. Aber Hitchcocks Lifeboat  ist brutal und schockiert aus anderen Gründen als Psycho , The Birds oder The Lady Vanishes . Er befriedigt nämlich solche Kritiker*innen, die Hitchcock immer verächtlich die "Wahrscheinlichkeitskrämer" genannt hat – also die Leute, die seinen Filmen vorhalten, total unwahrscheinliche Geschichten zu erzählen (zum Leben erwachte Mütter töten unter der Dusche, Vogelschwärme attackieren ein harmloses Dorf, eine internationale Verschwörung entführt eine alte Dame). Lifeboat ist von Hitchcocks bisherigen Filmen fraglos der "realistischste" , wenn man das so sagen kann. Und das macht seine Brutalität umso spürbarer. Die erste Leiche, die wir sehen, ist ein deutscher Offizier. "

Hitchcock #028: Saboteur (1942), oder: Bloß eine Wiederholung?

Im berühmten Finale von Hitchcocks Saboteur baumelt der Schurke an der Fackel der Freiheitsstatue Die Forschungsliteratur zu Hitchcocks Saboteur ist oft nicht sonderlich originell . Ich zitiere hier einige Auszüge (in chronologischer Sortierung; alle Hervorhebungen in Fettdruck stammen von mir): "Among the innumerable and obvious references [in  Saboteur ], we cite the handcuffs and the bridge, which recall  The Thirty-Nine Steps " ( Rohmer und Chabrol 1979 : 68–70) "Ganz offensichtlich ist Saboteur mit The 39 Steps (1935) wie mit North by Northwest (1958) verwandt." ( Oplustil 1999 : 316) "While the story [of  Saboteur ] was yet another reworking of  The 39 Steps , it was at least timely" ( Adair 2002 : 76) "[ Saboteur is]  like The 39 Steps , but set in America" ( McGilligan 2003: 293) "In the broadest terms, its [ The 39 Steps ] basic plot components were clearly borrowed for many of the director's later films, including (most o

Hitchcock #027: Suspicion (1941), oder: Mit Milch gegen die Sucht

Leuchtet das Glas Milch , das Cary Grant in Suspicion die Treppe hochträgt, wirklich so hell, als ob sich eine Lampe darin befindet ?  ... ist die Frage, die sich scheinbar noch niemand gestellt hat. Denn landauf, landab liest und hört man von der genialen Idee, dass Hitchcock das Glas, auf das allein sich die Aufmerksamkeit des Publikums richten sollte, durch eine Lampe im Inneren zum Leuchten gebracht habe. Er selbst hat davon Truffaut erzählt ( Truffaut 133) und seitdem ist diese Behauptung in der Welt. Ob sie jemals jemand nachgeprüft hat, konnte ich nicht herausfinden. Aber ehrlich gesagt... milchiger als Milch sieht das nicht aus (oder mit Loriots berühmten Eheberatungssketch gesprochen, "etwas weißer als weiß").  Das non du père . Der Vater billigt die Ehe zwischen Johnnie (Grant) und seiner Tochter Lina (Fontaine) sicher nicht Ich habe die Szene mehrfach geschaut und finde (einmal mehr), dass Truffaut mit seiner ursprünglichen Vermutung wohl ganz richtig lag, als