Direkt zum Hauptbereich

Hitchcock #013: The Skin Game (1931), oder: Was soll das Theater, Hitch?

Am Ende wird doch gefällt: The Skin Game

John Galsworthy (1867-1933) schrieb das Theaterstück, auf dem dieser Film von Alfred Hitchcock basiert. Ein Jahr nach Veröffentlichung des Films The Skin Game gewann Galsworthy den Literaturnobelpreis "for his distinguished art of narration which takes its highest form in The Forsyte Saga". Ein weiteres Jahr später, 1933, starb Galsworthy im Alter von nur 65 Jahren. Nun ist sein Stück The Skin Game keinesfalls so bedeutsam wie seine als Forsyte-Saga bekannte Roman-Trilogie, die explizit von der Schwedischen Akademie aus dem Gesamtwerk Galsworthys hervorgehoben wurde (wobei die Urteilsbegründungen der Schwedischen Akademie in diesen Jahren oft sehr kleinlich wirkten, Thomas Mann zum Beispiel erhielt ihn auch "principally for his great novel, Buddenbrooks", so als ob er den Zauberberg oder die frühe Fassung von Felix Krull oder die Novellen Tonio Kröger und Der Tod in Venedig nicht geschrieben hätte...). 

Nun also Galsworthys The Skin Game, das schon 1921 als Stummfilm von B.E. Doxat-Pratt verfilmt worden war (der Film existiert noch, aber ich weiß nicht, ob es eine digitale Kopie gibt und habe ihn daher nicht sehen können). Auch weiß ich nicht, ob Hitch den Stummfilm von 1921 kannte, denkbar wäre es jedenfalls. Spoto zufolge hatte Hitchcock das Theaterstück in den 1920ern auf der Bühne gesehen. Wer sich für die Unterschiede zwischen Galsworthys Stück und Hitchcocks Film interessiert (es sind nur wenige), dem sei Yacowars Vergleich empfohlen (insbesondere 112-113).

Was reizte Hitchcock an diesem Film? "Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht, und ich habe auch nichts dazu zu sagen" (Truffaut 69), berichtete er in knappen Worten François Truffaut. Hitchcock erzählte später Anekdoten über Galsworthy, dass dieser die Gesprächsthemen bei seinen Dinnerabenden auf Karten vorgeschrieben und verteilt hätte: "This anecdote," schreibt Kritiker Dan Callahan, "is pretty much all Hitchcock got from the experience of doing The Skin Game" (Callahan 42). In diesem Film, so viele Kritiker*innen, habe sich Hitch darauf beschränkt, "redende Personen mit statischer Kamera abzufilmen, ohne Sinn für Choreographie im Raum, bar jedweden visuellen Gestaltungswillens" (Schnelle 264). Und obwohl nur anderthalb Stunden lang, so Hitchcock-Biograf Donald Spoto, "it seems to last half a day. Endlessly talky, it reveals a Hitchcock detached from his project." Rohmer und Chabrol betrachten den Film sogar als den Tiefpunkt in Hitchcocks Karriere: "The Skin Game is the worst film he has ever put his name to" (Rohmer/Chabrol 30). 

Im Hintergrund wird gerangelt, während vorne links Chloe aus dem Wasser gezogen wird. Ist sie tot?

Das verspricht nichts Gutes... schauen wir mal, ob wir mit der Lupe etwas finden, dass diesen Film sehenswert macht... 

Inhaltsangabe von Hitchcocks The Skin Game (Bis aufs Messer) (1931)

Die Geschichte erzählt von einem Streit zwischen zwei Familien, die stellvertretend für Stillstand und Fortschritt stehen: Den Stillstand der Ständegesellschaft (die adlige Familie Hillcrest) und den industriellen Fortschritt (Familie Hornblower). 

Der Streit entzündet sich auf Grund von Hornblowers (Edmund Gwenn) rücksichtslosen Geschäftspraktiken, wenn er Bauerfamilien ihr Land abkauft, ihnen ein Bleibe- und Wohnrecht verspricht, sie dann aber doch vor die Tür setzt (das "Skin Game" des Titels). Die Hillcrests (C.V. France und Helen Haye) nehmen sich der Sache an (auch um zu verhindern, dass Hornblower ein paar Fabriken in ihre schöne Landschaft baut). Der Streit nimmt immer schlimmere Züge an, es sieht aus, als hätte Hornblower gewonnen, da entschließen sich die Hillcrests, Hornblower zu erpressen. Ihr Druckmittel: Das Wissen um die unrühmliche Vergangenheit der Schwiegertochter Chloe Hornblower (Phyllis Konstam), die vor ihrer Ehe als eine Art Erpresserin-Prostituierte gearbeitet hat. 

Das "Skin Game" fordert seine Opfer: Chloes Suizid(versuch?) am Ende des Films

Das Druckmittel der Hillcrests erzielt zwar den gewünschten Effekt, Hornblower tritt eine umkämpfte Parzelle Landes ab und verzichtet auf seine industriellen Bauvorhaben. Aber die Ehe von Chloe und ihrem Mann Charles (John Longden, den wir schon aus Hitchcocks Blackmail kennen) leidet unter dem Druck. So sehr, dass Chloe sich schließlich das Leben nimmt (oder zu nehmen versucht, der Film löst das nicht auf). Hornblower schwört ewige Rache. Der Film endet mit dem symbolischen Fällen eines Baumes: Wird Hornblower seine Fabrik doch noch bauen?

Das Schauspiel-Ensemble von Skin Game

Das Ensemble ist durchwachsen. Überragend ist Edmund Gwenn in der Rolle Hornblowers, die er bereits 1921 in der Stummfilmfassung spielte und der 1947 einen Oscar als Bester Nebendarsteller in dem Weihnachtsfilm Miracle on 34th Street gewinnen würde (das man sich hier ansehen kann). Er verkörpert die Dynamik des aufstrebenden Unternehmers, dem jedes Mittel zur Erreichung seiner Ziele recht ist. Am Ende, als er verliert, schaltet Gwenn gekonnt in das Register des verzweifelten Mannes, der den Sinn des Lebens verloren hat. 

Steif wie Fritz Rasp in den Edgar-Wallace-Filmen: C.V. France (links). Agil und dynamisch wie ein Jungunternehmer: Edmund Gwenn (rechts)

Helen Haye in der Rolle der intrigierenden und besitzstandswahrenden Mrs. Hillcrest ist ebenfalls sehr gut. Eine Mutter-Figur (die Hillcrests haben eine Tochter namens Jill, gespielt von Jill Esmond), die in ihrer Rücksichtslosigkeit (sie geht buchstäblich über Leichen) an die dominanten Mütter späterer Hitchcock-Filme erinnert (The Birds, Marnie, Psycho, Notorious; aber auch Easy Virtue) oder an die Mutter-Figuren (Mrs Danvers in Rebecca), auch wenn ihr der sinistre Blick fehlt.

Noch nicht ganz die dominante Mutter der späteren Filme, aber dennoch kühl, berechnend und rücksichtslos: Mrs Hillcrest

Der Rest vom Ensemble fällt dagegen ab. Mit John Longden war Hitch schon in Blackmail nicht besonders zufrieden und er spielt auch hier nicht sonderlich gut. Richtig hölzern ist C.V. France als Esquire. Seine Steifheit hat etwas von Fritz Rasp in den späteren Edgar Wallace-Filmen, nur ohne Rasps Kamerapräsenz.

"The actors [...] are obviously doing whatever comes into their heads," schreiben Rohmer und Chabrol über The Skin Game. Das führe dazu, so die beiden weiter, dass die Kamera oft nicht hinterherkomme: "[the actors] catch the cameraman unprepared. As a result, we see either the beginnings of a camera movement that quickly comes to a halt, or the character stepping out of the frame while the camera wildly searches around for him in a sudden panic" (30). Für einen Regisseur, der immer wieder betont hat, dass die Kamera den Film erzähle und nicht die Schauspieler*innen, wirkt das in der Tat wie eine Bestätigung von Donald Spotos These, dass der Film Hitchcock ohne Interesse zeige ("Hitchcock detached from his project"). 

Der zentrale Konflikt in der Eröffnungsszene: Adel zu Pferde, Unternehmertum im Cabriolet

Warum halte ich mich, unüblich für diesen Blog, so lange bei den Schauspieler*innen auf? Einfach weil dieser Film spürbar Theater ist. Nicht in der unoriginellen Weise von Hitchcocks entsetzlich ideenlosem Juno and the Paycock, dafür hatte Hitch dann hier doch ein paar visuelle Pfeile im Köcher. Aber es bleibt: Ein abgefilmtes Theaterstück, das die meiste Zeit redende Menschen zeigt. Die weiter oben zitierte Kritik lag also genau richtig mit ihrer Einschätzung dieses Films.

Cinematografie in Hitchcocks The Skin Game

"The film is completely devoid of all style," urteilen Chabrol und Rohmer vernichtend (30) und fügen dann hinzu: "So let us merely rescue from this dusty The Skin Game an amusing auction scene and a very beautiful shot in the last reel -- and then let's pass over it as a film unworthy of its auteur" (31). 

Bei der Auktion wird Chloe mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und Hitch setzt seine geliebten Doppelbelichtungen aus der Stummfilmzeit ein

In der Tat ist die Szene bei der Auktion einer Parzelle Land die einzige, die visuell eindrucksvoll ist (siehe hier, ab Minute 26:50). Das hektische Hin und Her der Bietenden übersetzt Hitchcock in das hektische Hin und Her der Kamera (ab 28:58). Das ist aus heutiger Sicht vielleicht ein wenig belustigend, weil es eher gut gedacht als gemacht ist. Aber in dem Einerlei des Films eine willkommene Abwechslung, die die Szene als für die Handlung zentral markiert. 

Und am Ende dann noch eine Prise Melodrama, wenn die schwangere Chloe sich im Gartenteich (so was haben natürlich nur Adlige, die Symbolik ist nicht sonderlich subtil) ertränken will (ab 1:12:14). Zuvor ziehen die Hillcrests den Vorhang auf, wie im Theater und schmerzhaft erinnern wir uns, dass wir gefilmtes Theater sehen. Der eigentliche Suizidversuch ereignet sich off-camera. Man sieht nur, wie Chloe aus dem Teich gezogen wird (ab 1:14:45) und man sie ins Haus trägt (Lebt sie noch? Lebt ihr Kind noch? Wieso will man das universale Filmheilmittel bringen lassen, ein Glas Brandy?). 

Fazit

Theater. Film. Zwei verschiedene Sachen. Verschiedener als man meinen möchte. Ich liebe beides sehr. Aber gemischt ergibt das keinen guten Cocktail. Hitchcocks Skin Game ist mal wieder abgefilmtes Theater. Die Vorlage von Galsworthy ist fraglos besser als der Möchtegern-Ibsen von Sean O'Casey (Juno and the Paycock). Auch fühlt es sich filmischer an, da die Vorlage kein Kammerspiel im engen Sinne ist. Aber es bleibt leider ein Kamera-filmt-Bühne-Film. 

Und damit ist auch fast alles über Skin Game gesagt. Ich hatte den Film einmal in den 1990ern gesehen, vermutlich auf Deutsch, aus der Bibliothek ausgeliehen. Und ich weiß, dass ich ihn mir damals auf VHS überspielt hatte (ist ja nun verjährt, ich kann diese Schuld endlich eingestehen). Aber dann habe ich das Band nie wieder aus dem Regal geholt. Jetzt beim Wiederanschauen weiß ich wieso: Der Film ist langweilig, daran ändern auch die zwei einzig guten Szenen nichts, die Auktion (eher drollig-gut) und der Selbstmord(versuch) am Ende (melodramatisch gut). 

Ich gebe (mit viel gutem Willen) für diese zwei Szenen ein Messer, ein weiteres für Edmund Gwenn, so dass The Skin Game mit zwei Messern abschneidet und damit gleichauf liegt mit The Pleasure Garden und The Farmer's Wife. Da ist er in guter Gesellschaft. Der Film sollte besser The Skin Gähn heißen... Muss man nicht sehen. 

Films Cited/Mentioned (in chronologischer Reihenfolge)

  • The Skin Game (dir. B.E. Doxat-Pratt) (1921)
  • The Pleasure Garden (dir. Alfred Hitchcock) (1925)
  • Easy Virtue (dir. Alfred Hitchcock) (1928)
  • The Farmer's Wife (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
  • Blackmail (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
  • Juno and the Paycock (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
  • The Skin Game (dir. Alfred Hitchcock) (1931)
  • Rebecca (dir. Alfred Hitchcock) (1940)
  • Notorious (dir. Alfred Hitchcock) (1946)
  • Psycho (dir. Alfred Hitchcock) (1960)
  • The Birds (dir. Alfred Hitchcock) (1963)
  • Marnie (dir. Alfred Hitchcock) (1964)

Works Cited (alphabetische Reihenfolge)

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Hitchcocks The Skin Game (1931), oder: Was soll das Theater, Hitch?.Hitchcock: Rewatch 2022, 17.06.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/06/hitchcock-013-skin-game-1931-oder-was.html.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Hitchcock #030: Lifeboat (1944), oder: Hitchcocks Floß der Medusa

Man ist sicher nicht überrascht, dass Hitchcock es schafft, zu schockieren : Ein Messer unter der Dusche, bedrohliche Vogelschwärme, eine Verschwörung im Zug... all das identifizieren wir als "typisch Hitchcock", all das schockiert auf seine je eigene Weise. Aber Hitchcocks Lifeboat  ist brutal und schockiert aus anderen Gründen als Psycho , The Birds oder The Lady Vanishes . Er befriedigt nämlich solche Kritiker*innen, die Hitchcock immer verächtlich die "Wahrscheinlichkeitskrämer" genannt hat – also die Leute, die seinen Filmen vorhalten, total unwahrscheinliche Geschichten zu erzählen (zum Leben erwachte Mütter töten unter der Dusche, Vogelschwärme attackieren ein harmloses Dorf, eine internationale Verschwörung entführt eine alte Dame). Lifeboat ist von Hitchcocks bisherigen Filmen fraglos der "realistischste" , wenn man das so sagen kann. Und das macht seine Brutalität umso spürbarer. Die erste Leiche, die wir sehen, ist ein deutscher Offizier. "

Hitchcock #028: Saboteur (1942), oder: Bloß eine Wiederholung?

Im berühmten Finale von Hitchcocks Saboteur baumelt der Schurke an der Fackel der Freiheitsstatue Die Forschungsliteratur zu Hitchcocks Saboteur ist oft nicht sonderlich originell . Ich zitiere hier einige Auszüge (in chronologischer Sortierung; alle Hervorhebungen in Fettdruck stammen von mir): "Among the innumerable and obvious references [in  Saboteur ], we cite the handcuffs and the bridge, which recall  The Thirty-Nine Steps " ( Rohmer und Chabrol 1979 : 68–70) "Ganz offensichtlich ist Saboteur mit The 39 Steps (1935) wie mit North by Northwest (1958) verwandt." ( Oplustil 1999 : 316) "While the story [of  Saboteur ] was yet another reworking of  The 39 Steps , it was at least timely" ( Adair 2002 : 76) "[ Saboteur is]  like The 39 Steps , but set in America" ( McGilligan 2003: 293) "In the broadest terms, its [ The 39 Steps ] basic plot components were clearly borrowed for many of the director's later films, including (most o

Hitchcock #027: Suspicion (1941), oder: Mit Milch gegen die Sucht

Leuchtet das Glas Milch , das Cary Grant in Suspicion die Treppe hochträgt, wirklich so hell, als ob sich eine Lampe darin befindet ?  ... ist die Frage, die sich scheinbar noch niemand gestellt hat. Denn landauf, landab liest und hört man von der genialen Idee, dass Hitchcock das Glas, auf das allein sich die Aufmerksamkeit des Publikums richten sollte, durch eine Lampe im Inneren zum Leuchten gebracht habe. Er selbst hat davon Truffaut erzählt ( Truffaut 133) und seitdem ist diese Behauptung in der Welt. Ob sie jemals jemand nachgeprüft hat, konnte ich nicht herausfinden. Aber ehrlich gesagt... milchiger als Milch sieht das nicht aus (oder mit Loriots berühmten Eheberatungssketch gesprochen, "etwas weißer als weiß").  Das non du père . Der Vater billigt die Ehe zwischen Johnnie (Grant) und seiner Tochter Lina (Fontaine) sicher nicht Ich habe die Szene mehrfach geschaut und finde (einmal mehr), dass Truffaut mit seiner ursprünglichen Vermutung wohl ganz richtig lag, als