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Die verzweifelte Larita vor dem Gerichtsgebäude |
Easy Virtue wurde im Frühjahr 1927 gedreht, feierte aber erst im März 1928 Premiere. In der Zwischenzeit hatte Hitchcock für seinen neuen Arbeitgeber, British International Pictures, The Ring gedreht, der im Oktober 1927 uraufgeführt wurde und deshalb im vorherigen Blogpost behandelt wurde.
Mit diesem Film erfüllte Hitch seinen Vertrag bei Michael Balcon und dessen Firma, Gainsborough Pictures (wer mehr über Balcon und die Gainsborough wissen möchte, dem*der sei Pam Cooks Buch von 1994, Gainsborough Pictures aus der Reihe Rethinking British Cinema, empfohlen).
Manche Kritiker*innen behaupten, die lustlose Inszenierung sei Hitchcocks Art gewesen, sich schnell des Vertrags mit Balcon zu entledigen. Rohmer und Chabrol schreiben: "Nothing in this story of a divorcée unable to rebuild her life was of interest to Hitch. He relied completely on his craftsmanship and managed to get the job done creditably thanks to a careful though somewhat lusterless direction, plus a perfect handling of the leading lady, Isabel Jeans. The film cruelly underlined the artificiality and the shallowness of Coward's play. For Hitchcock it was an elegant way of thumbing his nose at Gainsborough and reclaiming his freedom" (12).
Die Kritik nahm den Film wenig wohlwollend auf und verteilte "ratings of poor to average" (Strauss 57). Heutige Kritiker*innen zeichnen ein differenziertes Bild von Easy Virtue, der durchaus seine Meriten hat. Strauss zum Beispiel konstatiert: "I found much of interest in the film that belies its generally limited praise" (58). William Rothman lobt den Film "with its extraordinary trial sequence that establishes a Hitchcock paradigm and links the camera's eye with the stern gaze of a judge" (60).
Inhaltsangabe von Hitchcocks Easy Virtue (Leichtlebig) (1927)
Der Film erzählt die Geschichte von Larita Filton (Isabel Jeans), die sich von ihrem eifersüchtigen, gewalttätigen und alkoholkranken Mann scheiden lässt. Der Scheidungsprozess macht Presse und Larita beschließt, sich in Südfrankreich zu erholen. Dort trifft sie ein Tennisball am Auge und dadurch auf den jungen John Whittaker (Robin Irvine). Die beiden verlieben sich und heiraten, ohne dass John etwas aus Laritas früherem Leben wissen will. Das Ehepaar reist zurück nach England, um auf dem Anwesen von Johns Familie zu leben. Doch dessen Mutter, Mrs. Whittaker (Violet Farebrother), misstraut der Frau ihres Sohnes. Ihr fortgesetztes Misstrauen färbt schließlich auch auf John ab, der die Ehe als Fehler bezeichnet (was Larita zufällig belauscht). Die Familie erfährt zufällig über einen Zeitungsartikel von Laritas Vergangenheit, will die Sache aber vertuschen und fordert Larita auf, bei dem bevorstehenden Fest auf ihrem Zimmer zu bleiben. Doch Larita zeigt sich und es kommt zur Scheidung von John. Ein zweites Mal im Film sehen wir, wie Larita nach einer Scheidung vor das Gerichtsgebäude tritt und Reporter auf sie einstürmen. Mit ihren Worten "Schießt doch! Hier gibt es nichts mehr zu töten" endet der Film.
Kein Happy End. Das ist für die frühen Filme Hitchcocks bemerkenswert, insbesondere wenn wir uns erinnern, wie konstruiert und beliebig das Happy End in Hitchcocks vorherigem Film, Downhill, wirkte (deus-ex-machina) oder wie aufgesetzt und unmotiviert das Ende in seinem nächsten Film, The Ring, ist.
Blicke in Easy Virtue
Easy Virtue ist kein besonders guter Film. Er wird jedoch überzeugend von einer Metapher des Sehens und der Blicke zusammengehalten. Das setzt ihn von der unbeholfenen Metapher der abwärts führenden Rolltreppe in Downhill oder dem Durchbuchstabieren der polysemantischen Ring-Metapher in The Ring ab. Diese kamen nicht ohne explizite semantische Kontiguität aus: Das soziale nach-unten in Downhill wird in das reale nach-unten der Rolltreppe übersetzt; die Kreisförmigkeit von Ehe- und Boxring verbindet beide zu einem Text über die Ehe des Boxers usw. Das ist natürlich nicht per se ästhetisch schlechter, aber es hebt sich doch sehr stark von der subtileren Filmsemantik des späteren Hitchcock ab (das Seil in Rope etwa tötet das Opfer, verbindet die Mörder, macht das Unsichtbare sichtbar, umwickelt den Stapel Bücher, der dem Vater des Opfers ausgeliehen wird usw.; es dient somit als Metapher der Verbindung von Disparitäten).
Easy Virtue ist also geprägt von der Metapher der Blicke und des Sehens, was eine durch und durch filmische Metapher ist. Die Hauptfigur Larita Filton ist, wie Sidney Gottlieb schreibt, "above all a spectacle, vulnerable to visual dissection" (261). So verwundert es nicht, dass die Credits in der Eröffnungssequenz auf eine Kamera geschrieben sind:
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Der Film Easy Virtue öffnet mit dem Bild einer Kamera |
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V.l.n.r.: Larita unscharf. Der Richter nimmt sein Monokel zu Hilfe. Larita scharf. |
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Sie will dem Auge der Öffentlichkeit entgehen und wird am Auge von John (links) verwundet |
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Der letzte Zwischentitel im Film, Laritas letzter Satz |
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Ein Abschiedskuss: Larita (links) und ihre Schwägerin (rechts). Oder doch mehr? |
Filmisch interessante Szenen in Easy Virtue
Abseits von der gelungenen Metapher des Blickes hält der Film einige interessante Szenen bereit. Manche sind, wie bei Hitchcock üblich, visuell verspielt. Etwa wenn der Monokel des Richters den Anwalt vergrößert (s.u.) oder wenn beim Tennisspiel durch den Tennisschläger gefilmt wird (s.u.).
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Visuelle Spielereien: Durch den Monokel gefilmt (links) und durch den Tennisschläger (rechts) |
Auch die düstere Villa von Johns Familie verweist auf spätere Filme, insbesondere auf Manderley in Rebecca. Auch Manderley wird bewohnt von einer älteren Frau, die die neuankommende junge Ehefrau nicht akzeptiert und fortjagen möchte.
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Die erste böse Mutter in Hitchcocks Filmen: Violet Farebrother als Mrs Whittaker |
Fazit
Films Cited/Mentioned (in chronologischer Reihenfolge)
- Easy Virtue (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
- Downhill (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
- The Ring (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
- The Lady Vanishes (dir. Alfred Hitchcock) (1938)
- Notorious (dir. Alfred Hitchcock) (1946)
- Rope (dir. Alfred Hitchcock) (1948)
- Psycho (dir. Alfred Hitchcock) (1960)
- The Birds (dir. Alfred Hitchcock) (1963)
- Marnie (dir. Alfred Hitchcock) (1964)
- Easy Virtue (dir. Stephan Elliott) (2008) (Trailer auf YouTube)
Works Cited (alphabetische Reihenfolge)
- Cook, Pam: Gainsborough Pictures. Continuum, 1994.
- Fabe, Marilyn: Closely Watched Films. An Introduction to the Art of Narrative Film Technique. Berkeley: U of California P, 2004.
- Gottlieb, Sidney. "Hitchcock’s Silent Cinema." In: Thomas M. Leitch (Hg.): A Companion to Alfred Hitchcock. Chichester, West Sussex: Wiley-Blackwell, 2011: 255–269.
- Rohmer, Eric und Claude Chabrol: Hitchcock. The First 44 Films. Übersetzt von Stanley Hochman. New York: Ungar, 1979.
- Spoto, Donald. The Dark Side of Genius: The Life of Alfred Hitchcock. Little Brown, 1983.
- Strauss, Marc Raymond. Alfred Hitchcock's Silent Films. Jefferson, N.C.: McFarland, 2004.
- Truffaut, François. Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? 1966. Übers. v. Frieda Grafe und Enno Patalas. 2. Auflage. München: Heyne, 2003.
- Yacowar, Maurice. Hitchcock's British Films. 2nd ed. Detroit: Wayne State UP, 2010.
Kronshage, Eike. "Hitchcocks Easy Virtue (1927), oder: 'Schießt doch!'" Hitchcock: Rewatch 2022, 25.05.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/05/hitchcock-005-easy-virtue-1927-oder-bye.html.
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