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Hitchcock #006: The Ring (1927), Boxring, Ehering, Bo-ring

Carl Brisson als Jack, der Boxer im Ring

(Hinweis: Ich poste diesen Artikel zu Hitchcocks sechstem Film vor dem Artikel zu Hitchcocks fünftem Film, Easy Virtue (1927); zwar wurde Easy Virtue früher im Jahr 1927 gedreht, aber erst 1928, nach The Ring, veröffentlicht)

Im Jahr 1927 ist Hitchcock 28 Jahre alt. "And he was officially considered the great hope of English cinema" (Rohmer 12). Dieser große Hoffnungsträger des britischen (vielleicht auch des europäischen) Kinos zog natürlich die Aufmerksamkeit der Filmstudios auf sich. Denn noch bevor sein Vertrag mit Michael Balcons Gainsborough Pictures erfüllt war, kam der Produzent John Maxwell auf ihn zu, um ihn für dessen im Vorjahr gegründete Produktionsfirma British International Pictures (BIP) abzuwerben. "Would Hitchcock be interested in signing a multipicture deal with the rival studio, at the princely sum of thirteen thousand pounds a year, more than three times what he was making at Gainsborough? Hitchcock signed at once" (Spoto). Das hohe Gehalt war vermutlich nicht einmal der Hauptgrund: Maxwell versprach Hitchcock vor allem mehr künstlerische Freiheit bei seinen Filmen. Und das musste Hitchcock über alle Maßen attraktiv vorgekommen sein.

Der erste Film, den Hitchcock für BPI drehte, war The Ring

Inhaltsangabe zu Hitchcocks The Ring (1927)

Trotz seiner großen visuellen Innovationskraft hatte Hitchcock um 1927 herum "not then found his particular métier," wie Balcon gesagt haben soll (zitiert in Spoto). Sein Metier sollte später der Suspense-Thriller werden. Aber erst einmal macht Hitch, von BIP ausgestattet mit allen künstlerischen Freiheiten, einen Liebesfilm im Boxkampf-Milieu. 

Der Plot ist nicht besonders raffiniert. Der Jahrmarktsboxer "One Round Jack" (Carl Brisson) haut in einem Kirmeszelt jeden Gegner in der ersten Runde um. Verliebt ist er in die Kartenabreißerin Mabel (Lillian Hall-Davis; ihr Charakter wird in manchen Quellen fälschlich Nelly genannt). Eines Tages kommt ein Mann (Ian Hunter) in seinen Ring und besiegt ihn. Erst dann gibt sich dieser Sieger als australischer Box-Champion Bob Corby zu erkennen. Auch Corby verliebt sich in Mabel und schenkt ihr einen Armreif. Jack wird zu Bobs Sparringspartner. Mabel heiratet Jack, aber ist bei der Hochzeit in Gedanken bei Bob. Als die Affäre zwischen Mabel und Bob sich intensiviert, beschließt Jack, sich hochzukämpfen, bis er in derselben Klasse mit Bob kämpft und diesen dann im Ring besiegen kann. Beim finalen Kampf unterliegt Jack beinahe, bis Mabel in seine Ecke des Rings kommt und ihm sagt, dass sie ihn liebe. Jack schlägt daraufhin Bob K.O. Mabel streift den Armring von Bob ab und wirft ihn auf den Boden. Ende. 

Die Geschichte ist ein konventionelles Eifersuchtsdrama und es mir unerklärlich, wieso Kritiker wie Andreas Ungerböck angesichts der unoriginellen Vorlage vom "Talent des 28jährigen Regisseurs auch in schreiberischer Hinsicht" sprechen und den Film einen "frühen Genieblitz Hitchcocks" nennen (239) und sagen, dass der Film "sich unter die besten" Boxfilme einreihe (241). Vielleicht hat Ungerböck einen anderen Film gesehen; er behauptet ja auch, dass Mabels "Name im Film nicht genannt wird" (239), wobei er deutlich auf dem Telegramm steht, dass Jack ihr sendet... Nun, alle Petitessen beiseite: Es bleibt festzuhalten, dass der Film recht flach ist (pace Hitchcock), sowohl in seiner Darstellung der Eifersucht (Jack ist halt eifersüchtig), in seiner Charakterzeichnung (Mabels change of hearts am Ende ist durch nichts motiviert), als auch in seiner Darstellung der Geschlechterrollen (die "toxische Maskulinität" und das Besitzdenken Jacks wird nicht einmal ironisch gebrochen, wie es Hitchcock in späteren Filmen oft tun wird).

Die Metapher des Kampfs um die Gunst der Frau wird hier in den Boxkampf übersetzt, was Hitchcock die Gelegenheit gibt, die Polysemie von Ring (Ehering, Boxring, Armring) zu einer Allegorie des ehelichen Kampfes auszubauen (Ehe verläuft in Runden, Ehe ist ein Kampf, mal gewinnt man, mal unterliegt man usw.). Das ist weder inhaltlich noch filmisch sonderlich subtil. Wir sehen, wenig überraschend, sehr viele ringförmige Objekte im Film, mal spielerischer, mal kämpferischer Natur, mal verbindend, mal trennend. Die erste Szene auf dem Jahrmarkt hat gleich eine Vielzahl solcher "Ringe", noch bevor der Box-Ring eingeführt wird:

Das ist kaum origineller, als Hitchcocks von ihm selbst kritisierte Idee, in Downhill Ivor Novello nach dem ersten sozialen Abstieg eine Rolltreppe hinunterfahren zu lassen. Höchstens frischer, weil der Jahrmarkt eine lebhafte und visuelle Kulisse bietet. Charles Barr betont den Einfluss von "Vaudeville Theater" auf die Jahrmarktszenen in The Ring (56). Hier wird also durchaus das rein unterhaltende Theater in die Welt des Films geholt. 

Auch Jack Sullivan wirft einen kritischen Blick auf die Jahrmarktszenen und zieht sogar eine Verbindungslinie von Hitchcocks Pleasure Garden zu Downhill und The Ring, alles Filme, die "depict dancers, dance halls, and stages as exuberant backdrops to disaster, a counterpoint Hitchcock would continue to weave throughout his career" (220). Diese thematische Gruppierung ist überzeugend. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass die leichte Massen-Unterhaltung in den Filmen der späten 1950er und der 1960er Jahre völlig fehlt. Was der Jahrmarkt in diesem Film (bzw. in dieser Gruppe von Filmen) betont, ist die karnevaleske Dimension der Unterhaltungswelt. Später wird diese Vertauschung der Verhältnisse auf anderem Wege erzielt, etwa durch Wahnsinn (Psycho) oder durch Naturkatastrophen (The Birds). 


Der Ring-Krieg. Links: Bob schenkt Mabel den Armreif; rechts Jacks Ehering für Mabel fällt zu Boden

Und dennoch zeigt sich sowohl Truffaut sehr angetan von dem Film ("Ich mag ihn sehr gern" [Truffaut 46]), als auch Hitchcock selbst, der ihn sogar "nach The Lodger den zweiten Hitchcockfilm" nennt (Truffaut 47). Das mag vielleicht auch daran liegen, dass Hitchcock selbst das Script zum Film geschrieben hat. Man könnte (wie Spoto) sagen, dass ein visuell denkender Regisseur prädestiniert sei, ein Stummfilmdrehbuch zu schreiben, aber es ist dennoch ein eher konventionelles Buch geworden und ein eher durchschnittlicher Film. Es sollte der einzige Film in seiner Karriere bleiben "when he [Hitchcock] took screen credit for writing a script" (Thomas Leitch 19).

Cinematografie in The Ring (1927)

Hitchcock sagte später, dass der Film voll gewesen sei von "kleinen visuellen Ideen, die manchmal so subtil waren, dass die Leute sie gar nicht bemerkten" (Truffaut 47). Das ist bei The Ring kaum nachzuvollziehen (oder die Ideen sind wirklich derart subtil, dass sie mir tatsächlich entgangen sind...)

Es gibt ein paar schöne visuelle Ideen. Etwa, wenn der erste Kampf zwischen Jack und Bob in die zweite Runde geht und die Zirkusleute das alte, verbeulte Schild mit der Rundennummer "1" abnehmen und das neue, unbenutzte mit der Nummer "2" aufhängen: Wir wissen, hier passiert etwas, das zuvor noch nicht passiert ist, ein Kampf gegen "One Round Jack" geht in die zweite Runde. 

Das Schild für "Runde 1" vom häufigen Gebrauch verbeult; das für "Runde 2" noch völlig neu

Manche Ideen sind etwas abgedroschen, wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie es bereits 1927 waren. Gleichwohl sind sie nicht unbedingt originell. In einer Szene, soll Jack sich beruhigen und gegen einen Boxsack schlagen. Er stellt sich in seiner Eifersucht vor, dass der Sack Bobs Kopf sei, es gibt eine Überblendung von Bobs Gesicht und dem Boxsack und Jack schlägt ihn rasch aus den Angeln. 
Der Punching Ball mit Bobs Gesicht: Jetzt kann Jack so richtig zuschlagen

Was den Film tatsächlich auszeichnet, sind seine Montage-Szenen. Insbesondere die Montage, in der Hitchcock zeigt, wie Jack sich hochkämpft. Sein Name steht auf dem Plakat der Boxer ganz unten (man ist an das Laddern in Prügelspielen wie Mortal Kombat erinnert). Die Bäume um das Plakat herum sind grün, es ist Sommer. Schnitt. Dann steigt sein Name eine Zeile hoch, der Baum ist kahl, es ist Herbst. Schnitt. Noch eine Zeile nach oben, Schnee liegt auf den Bäumen. Schnitt. Eine weitere Zeile Richtung Ziel, der Baum grünt wieder. 

Die Jahreszeiten (von links oben im Uhrzeigersinn).

Das sind zwar noch nicht die Trainings-Montage-Szenen, die Rocky später berühmt machen würde, aber es zeigt, dass Profi-Sport mit Training zu tun hat und Training Zeit benötigt und man diese (lange) Trainingszeit im Film notwendig raffen muss. 

The Ring (auf Deutsch übrigens sehr unzutreffend Der Weltmeister betitelt) kommt mit extrem wenigen Zwischentiteln aus. Oft sehen wir, wie die Hauptcharaktere miteinander reden, ohne dass uns ein Zwischentitel den Inhalt ihres Dialogs wiedergibt. 

Tom Ryall bringt den kritischen Konsens auf den Punkt, wenn er schreibt: "Though they have their share of other Hitchcockian qualities, films such as [...] The Ring (1927) [...] have little of the tension and suspense associated with the director." (276). 

Die "Hitchcockian qualities" jedoch in der mise-en-scène zu suchen und diese gar, wie es oft geschieht, mit Murnau zu vergleichen (siehe Spoto, aber auch Barr 58 oder Thomas Leitch, der The Ring gar als "the most expressionistic" Hitchcock-Film bezeichnet, zit. in Gottlieb 262, der der These prinzipiell zustimmt), halte ich für einen der zahllosen kritischen Selbstläufer: Einer schreibt's, viele schreiben's ab. Da ist nun wirklich kein Murnau zu finden und kaum Expressionismus. Auch nicht in den "eruptions of stylistic excess" (Gottlieb 262). Ja, es ist Hitchcock. Ja, es fällt uns unendlich schwer, seine schwächeren Filme als solche zu akzeptieren. Aber dennoch: The Ring ist kein Murnau, ganz gleich, wie oft Forscher*innen das behaupten.

Fazit: 

Tja, von Klassikern des Kampffilms wie dem erwähnten Rocky ist dieser Film meilenweit entfernt. Seine Handlung konventionell. Die Kampf-Metapher wenig subtil. Die Figuren allesamt Pappkameraden. Was macht diesen Film reizvoll, abgesehen davon, dass er von Hitchcock stammt? Eigentlich nichts. Ich habe ihn nur einmal geschaut und bezweifle, dass ich ihn ein zweites Mal anschauen werde. Leider ist The Ring auch nicht frei von Sexismus (Frau als "Preisgeld" im Boxkampf), Rassismus (ein Zwischentitel enthält sogar das N-Wort; das wiegt auch der Hinweis "Ja, war aber 1927 nun mal so" nicht auf, wir müssen Hitch wirklich nicht alles durchgehen lassen) und toxischer Maskulinität. 

Wer nicht gerade komplettistische Ambitionen hat, sollte sich nicht die Mühe machen, mit ihm in den Ring zu steigen (ja, Wortspiele wie dieses sind genauso abgedroschen, wie die Metaphern des Films). Wirklich: Der Film lohnt die 90 Minuten nicht. Er ist, wie etwa im Presenting Hitchcock-Podcast diskutiert, mind. 45 Minuten zu lang.

Ich vergebe 1 von 10 Messern. Der einzige Ring in diesem Film ist der bo-ring. Sorry, Hitch.

Films Cited / Mentioned (chronologisch sortiert):

  • Pleasure Garden (dir. Alfred Hitchcock) (1925)
  • Downhill (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
  • Easy Virtue (dir. Alfred Hitchcock) (1927) 
  • The Ring (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
  • Rocky (dir. John G. Avildsen) (1976)

Works Cited:

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Hitchcocks The Ring (1927), Boxring, Ehering, Bo-ring.Hitchcock: Rewatch 2022, 24.05.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/05/hitchcock-006-ring-1927-boxring-ehering.html.

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