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Hitchcock #004: Downhill (1927), oder Wieso wird der arme Ivor Novello immer zu Unrecht beschuldigt?

Über die Vorlage sagte Hitchcock zu Truffaut: "Ein ziemlich mittelmäßiges Stück, es stammte von eben jenem Ivor Novello." (45) Und sagen wir es gleich, wie es ist: Auch der Film Downhill (Abwärts) von Alfred Hitchcock ist eher unteres Mittelmaß. Er hat ein paar schöne visuelle Ideen und einige gute Darsteller*innen. Aber er krankt in der Tat an der episodischen Erzählweise, der es, obwohl auf einem Theaterstück basierend, nur darum geht, so schnell wie möglich von einem Schauplatz zum nächsten zu kommen. Charakterentwicklung: Fehlanzeige. Suspense: Nope. Ein Film für Hitchcock-Komplettist*innen. Die Filmzeitschrift Bioscope urteilte damals: "It is more by the brilliant treatment of the director and the excellent acting that this film is likely to appeal to the public than by the strength of its story. But if the plot is hardly plausible, Hitchcock 's treatment is of great interest. The photography is admirable" (Bioscope 26.05.1927; zitiert nach Yacowar 29)
Daher gehe ich nach der Inhaltsangabe gezielt auf die wenigen guten Szenen ein. Auch wenn ich Downhill schnell hinter mich bringen möchte, lohnt sich der Blick auf diese Szenen sehr.

Inhaltsangabe von Hitchcocks Downhill (1927)

Der erste Satz aus Truffauts Inhaltsangabe lautet: "[Downhill] erzählt von einem Jungen, den man eines Diebstahls beschuldigt" (Truffaut 44). Der Fehler dabei ist, dass man dem 34-jährigen Schauspieler Novello nicht abnimmt, ein Schuljunge von max. 20 Jahren an einer englischen boarding school zu sein. Er wirkt zwar nicht alt, aber eben auch nicht mehr jungenhaft. 
Ivor Novello (34) als "Internatsschüler" (im Hintergrund echte Schüler)

Zudem geht es nicht um einen Diebstahl, sondern um ein uneheliches Kind, soweit sich das aus dem Film rekonstruieren lässt. Dass Hitchcock Truffauts Aussage unkorrigiert stehen lässt, dürfte für Verwirrung gesorgt haben (und wie üblich hat das dann eine Generation von Forscher*innen ungefragt übernommen, es steht so in der Hitchcock Zone). Auch Yacowar bietet eine merkwürdige Interpretation an, wenn er schreibt: "The waitress, in implicating Roddy, reprises their party scene in carefully selected details [...], Roddy taking a pound from her [...]. That [...] detail is a lie. In showing
Mabel's lie on the same literal level as the 'facts,' Hitchcock commits what was called a mistake in Stage Fright, portraying a lie as if it happened." (Yacowar 32) Das scheint mir ungenau beobachtet, da auch die Rückblende (siehe hier) zeigt, wie Roddy Mabel die 1-Pfund-Note gibt (und nicht umgekehrt). Und genau so war es auch passiert (siehe hier). Wir sollen die Szene also so verstehen, dass das Bild eben doch die Wahrheit spricht, nur Mabel eben nicht. Auch Yacowar hat sich hier von der Diebstahl-Aussage verleiten lassen, ungenau zu schauen.
Der Schulleiter ruft die zwei Jungs in sein Büro und sagt unheilvoll: "Ihr Jungs könnt sicherlich erraten, weshalb ich Euch hierherzitiert habe?" Sie schauen sich fragend an, dann merken sie, dass Mabel (Annette Benson), eine junge Kellnerin und Ladenbesitzerin, mit der die beiden eine Szene zuvor heftig geflirtet hatten, im Raum ist. Der Schulleiter fährt fort: "Dieses Mädchen hat eine Anschuldigung vorgebracht, eine äußerst schwerwiegende Anschuldigung." Sie zeigt auf Roddy (Ivor Novello), der die Schuld auf sich nimmt und der Schule verwiesen wird.

Wieso sollte Diebstahl die Anschuldigung sein? Hätte Roddys Freund Tim (Robin Irvine) sie bestohlen (wir wissen ja, dass er arm ist), hätte sie zum reichen Roddy gehen und sagen können: "Hey, rück die Kohle raus, die Dein Freund gestohlen hat, sonst sag ich's dem Direktor". Die Szene macht wesentlich mehr Sinn, wenn der "most serious charge" eine Schwangerschaft ist. Die Zuschauer*innen wissen, dass Tim mit ihr im Hinterzimmer "geflirtet" hat (Code für: Sie hatten Sex miteinander). Sie weiß, dass Tim keinen Penny besitzt, Roddy hingegen reich ist. Also will sie das uneheliche Kind Roddy anhängen, damit dieser Geld rausrückt. Viel plausibler.
Mabel beschuldigt Roddy zu Unrecht des Vergehens von Tim

Was die Sache jedoch so schwierig macht, ist, dass Mabel nach dieser Szene komplett aus dem Film verschwindet. Was ist mit ihrem Kind? Wo sind die Unterhaltsansprüche gegen Roddy? Was wurde aus Tim, dem Vater? Der Film läuft bereits seit fast 40 Minuten, nur um dann urplötzlich zwei zentrale Charaktere aus der Exposition komplett zu ignorieren. Klar, es geht um den sozialen Abstieg Roddys (daher der Titel des Films: Downhill), aber der wird in relativ beliebigen Episoden erzählt, statt diesen primären Konflikt durchzudeklinieren. Das Theaterstück ist unauffindbar, daher ein Vergleich nicht möglich; zumindest schreibt wemisse in seinem lesenswerten Blog, dass er einen Aufführungstermin des Stückes hat verifizieren können: "it debuted at the Queens Theatre in London on June 16, 1926." 

Also, schnell erzählt, was weiter passiert. Es geht natürlich Abwärts (so der deutsche Filmtitel). Und damit wir das auch verstehen, zeigt uns Hitchcock Roddy, wie dieser auf einer Rolltreppe nach unten fährt (Hitchcock: "Eine ziemlich naive Sache, die ich heute auch nicht mehr machen würde" [Truffaut 45]). 
Der Beginn von Roddys Abstieg: Es geht abwärts. Auf der Rolltreppe (Szene auf YouTube)

Es folgt Akt 2, dessen Titel "The world of make-believe" lautet. Roddy arbeitet mittlerweile am Theater als Komparse. Er verliebt sich in die Hauptdarstellerin, Julia Fotheringale (ein sprechender Name, der uns später in The Lady Vanishes wiederbegegnen wird) (Isabel Jeans). Die lässt sich vom Hauptdarsteller Archie (Ian Hunter) aushalten, aber wittert ihre Chance, als Roddy eine große Erbschaft macht (als dieser deus-ex-machina in die Handlung kommt, haben wir ihn gerade einmal zehn Minuten "downhill" gesehen. Ist das die Wende des Films? Und während man sich noch fragt, was für ein Film hier eigentlich erzählt werden soll, treibt Julia nicht ohne einen Funken Böswilligkeit den armen Roddy durch teure Luxuskäufe schnell wieder in den Ruin. 

Und so beginnt der dritte und letzte Akt: "The World of Lost Illusions". Roddy arbeitet inzwischen in Paris (ja, richtig gelesen) als Eintänzer (musste ich auch erstmal googlen, was das ist, auch wenn der Film klar macht, dass es hier um männliche Prostitution geht). Aber als ihn das Elend dieses Jobs zu hart trifft, packt er seine Sachen und reist weiter nach... Marseille (ja, keine Ahnung wieso). Er liegt im Delirium, wird dann aber von einigen Seeleuten nach London zurückgefahren (aha... soso). 

Roddy (links) wiedervereint mit seiner Familie

Es kommt der Epilog (leider): Roddy schleppt sich geschwächt nach Hause. Dort hat sein Vater inzwischen die Wahrheit über den Mabel-Vorfall erfahren (was wurde aus Mabel, was aus Tim, wir wissen es nicht) und bittet seinen Sohn um Verzeihung. Und happy end. Puh, was für ein Unfug.

Cinematografie in Downhill (1927)

Also, der Plot verhindert, dass dies ein guter Film ist. Auch wenn Hitchcock teilweise schöne Bilder findet und einige interessante visuelle Experimente wagt. Drei davon möchte ich hier kurz näher beschreiben. Da ist zum einen die kurze Szene mit der Anschuldigung, dann die Pariser Tanzparty-Szene und schließlich die Marseiller Traumsequenz.

Leider verliert Hitchcock über die Anschuldigungsszene keine Worte Truffaut gegenüber und auch später nicht, wenn ich nichts übersehen habe. Es wirkt auf mich, als hätte Hitch die Schauspielerin von Mabel auf ein Rollbrett gesetzt und sie langsam auf die beiden Männer zugeschoben: Wen wird sie anschuldigen? (YouTube) Der Effekt ist ein bisschen der der Gerichtsszene in The Paradine Case (1947) (YouTube). Die Statik der Frau bei gleichzeitiger Bewegung erzeugt die Spannung. 

Beim ersten Schauen der Pariser Szene (siehe hier auf YouTube) war ich sehr verwirrt. Erst als ich bei Truffaut las, was Hitchcock vorgehabt hatte, wurde mir einiges klarer. Er sagt: "Ich habe eine Frau gezeigt, die gerade einen jungen Mann verführt. Sie ist nicht mehr ganz jung, aber noch recht schön, und er findet sie attraktiv, bis zum Morgen. Er geht und öffnet das Fenster, die Sonne schein herein und trifft das Gesicht der Frau. Da sieht er, wie scheußlich sie aussieht. Und durch das Fenster sieht man, wie die Leute unten einen Sarg vorbeitragen." (Truffaut 45) 


Das ist leider weniger elegant in Szene gesetzt, als Hitch es beschreibt: Roddy sitzt bei der Frau am Tisch. Wir Zuschauer erkennen schon, dass sie weniger attraktiv als Julia wirken soll (das Makeup und ihre Frisur weisen auf das Verlebte; gespielt von Violet Farebrother). Dann schüttet er ihr sein Herz aus (YouTube). Die Musiker hören auf zu spielen (die Nacht ist vorbei). Am Nebentisch bekommt ein Mann plötzlich einen Erstickungsanfall (YouTube) und man reißt die Fenster auf, um frische Luft in den Saal zu lassen (YouTube). Licht fällt herein und Roddys Blick wandert durch den Saal (er blickt übrigens schon entsetzt, bevor er in den Saal blickt, sehr seltsam; YouTube). Sein Blick schweift über den Mann mit dem Anfall und zu seiner Tischnachbarin, deren "Scheußlichkeit" (so Hitchcock) nun im Licht der Morgensonne erkennbar sein soll (YouTube). Entsetzt steht Roddy auf und die Frau verlässt beleidigt den Raum (YouTube). Von einem Sarg, der am Fenster vorbeigetragen wird ist keine Spur. Auch geht nicht Roddy das Fenster öffnen, sondern die Saaldiener. Auch zeigt der Film nicht, dass Roddy sie "attraktiv" findet. Dass er ihr sein Herz ausschüttet wirkt eher wie eine Sohn-Mutter-Beziehung (die Schauspielerin ist ca. 50 gewesen, also 16 Jahre älter als Novello). Kurz: Die Idee der Inszenierung wie von Hitch geschildert ist gut, die Umsetzung leider nicht. Wir sehen den Master of Suspense hier also an seinen hohen Ansprüchen scheitern, was irgendwie eine perverse Lust bereitet (aha, er ist also doch nicht perfekt in seiner Filmsprache, am Ende ist er wohl doch normalsterblich wie wir alle!).

Die zweite Szene folgt sogleich. Marseille und Fieberwahn. Auch hier wieder Hitchcock zu Truffaut: "Alles ohne Überblendungen, einfach nur geschnitten. [...] Damals waren die Träume in Filmen immer voll von Überblendungen, und das Bild war immer unscharf." (Truffaut 45). Die Sequenz ist tatsächlich so, wie von Hitch beschrieben (YouTube). Und es funktioniert sehr gut, ohne Vaseline auf der Kameralinse, ohne (zahllose) Überblendungen und (weil Stummfilm) ohne den Klang der "Traumharfe". Die Überblendung von Maschinenmotor zu Schallplattenspieler gibt es allerdings doch, ebenso die der beiden Frauen: Julia und die namenlose Dame im Tanzlokal.
Traumsequenz in Downhill: Die Gesichter zweier Frauen überblendet

Fazit:

Unsinniger Plot, zu episodisch erzählt, kaum Charakter-Plausibilität (Cory und Aaron diskutieren das ausführlich im Presenting Hitchcock-Podcast), unmotiviertes Happy End. Kurz: Eine Fingerübung für Hitchcock, um Technisches auszuprobieren ("Da haben wir etwas herumexperimentiert" [Truffaut 45]). 

Mehr nicht. Für Hitchcock-Komplettist*innen, nicht für Film-Fans. Ich gebe 3 von 10 Messern, für die o.g. bemerkenswerten Szenen. Mehr ist das leider nicht wert. Kein Wunder, dass der Film in der Criterion Collection nicht eigens veröffentlicht worden ist, sondern nur als "Special Feature" an die DVD-Ausgabe von The Lodger angehängt wurde. Wer möchte schon Geld für diesen Film ausgeben?

Films Cited / Mentioned (chronologische Reihenfolge)

  • The Lodger (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
  • Downhill (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
  • Stage Fright (dir. Alfred Hitchcock) (1950)

Works Cited

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Hitchcocks Downhill (1927), oder Wieso wird der arme Ivor Novello immer zu Unrecht beschuldigt?Hitchcock: Rewatch 2022, 20.05.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/05/hitchcock-004-downhill-1927-oder-wieso.html.

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