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Die Titelkarte des Films zeigt den Titel nur in Anführungsstrichen, denn so ein richtiger Geheimagent im klassischen Stil ist Hauptfigur Ashenden nicht... |
Hitchcocks Secret Agent schaut man am besten Rücken an Rücken mit dem Nachfolgefilm, Sabotage. Beide Filme erhalten hier eigene Einträge, aber ich werde bei der Besprechung des einen immer wieder auf den anderen verweisen und vice versa.
Der Titel dieses Films ist sehr verwirrend. Der "Secret Agent" des Titels ist eigentlich Schriftsteller. Und tot. Also zumindest angeblich. In Wahrheit hat der Geheimdienst seinen Tod nur vorgetäuscht, um den Schriftsteller (Edgar Brodie ist sein Name, wenngleich er den mit seinem inszenierten Ableben für immer verliert) auf eine geheime Mission in die Schweiz zu schicken, unter dem Tarnnamen "Ashenden". Und ja, "Secret Agent" steht nicht ganz zufällig in Anführungszeichen auf der Titelkarte des Films. Noch verwirrender: Der nächste Film von Hitchcock heißt Sabotage. Er basiert auf dem berühmten Roman von Joseph Conrad namens The Secret Agent (über den ich mehrere literaturwissenschaftliche Aufsätze geschrieben habe, siehe etwa hier und hier). Ja, der konnte dann nicht mehr The Secret Agent heißen, weil Hitchcock den Titel ja für diesen Film bereits verwendet hatte, so dass aus Conrads Secret Agent Hitchcocks Sabotage wurde.
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Eindrucksvoll inszeniert: Die Verfolgungsjagd durch die Schweizer Schokoladenfabrik |
Laut Spoto hatte Hitchcock in den 1920ern eine Bühnenfassung von Conrads Roman in London gesehen Und auch Secret Agent basiert auf der literarischen Vorlage eines berühmten Schriftstellers, nämlich W. Somerset Maugham, der unter dem Deckmantel seiner Schriftstellerei im Ersten Weltkrieg ebenfalls für den MI6 als Spion in der Schweiz arbeitete, wie auch sein Held Ashenden, nach dem die Sammlung von Kurzgeschichten benannt ist: Ashenden: Or, the British Agent (1928). So wurde aus Maughams Ashenden Hitchcocks Secret Agent. Alles klar?
Aus dieser Sammlung nahmen Hitchcock und sein Drehbuchautor Charles Bennett nur zwei Geschichten, die vierte ("The Hairless Mexican") und die zehnte ("The Traitor"), und verbanden sie in der gewohnten Manier (durch Hinzufügen einer weiblichen Hauptperson und zahlreicher eigener Episoden, viele davon eher komisch als tragisch). Außerdem erwähnt er Truffaut gegenüber, dass der Film zusätzlich auch Elemente eines "Stücks von Campbell Dixon" verwendet habe (Truffaut 93).
Secret Agent: Ein missglücktes Ideenfeuerwerk?
Hitchcock selbst hielt nicht so viel von seinem eigenen Film, fand ihn eher missglückt. Dafür macht er die Ziellosigkeit des Helden verantwortlich, der wirklich keinen erkennbaren Grund hat, für den MI6 zu arbeiten und der mit dessen Anweisungen überhaupt nicht einverstanden ist – warum quittiert er seinen Dienst nicht schon viel früher? Es ist ein wenig so, als wüsste Ashenden darum, dass seine Mission ein MacGuffin ist (mit einem derartigen Wissensgleichstand ist dann aber auch der Suspense dahin...). Es ist wie bei Conrads Roman (und somit auch bei Hitchcocks Sabotage, wo der Schurke Verloc nur wider Willen terroristische Akte begeht).
Als "zweite Schwäche des Films," gibt Hitchcock dessen "Überdosis an Ironie" an (Truffaut 93). Ironie ist bekanntlich, wenn man das Gegenteil von dem meint, was man sagt. Hier ist die Ironie, dass der nur widerwillig handelnde Ashenden, als er sich schließlich bereit erklärt, den feindlichen Spion zu töten, versehentlich einen falschen Mann umbringt, der also das Gegenteil von dem ist, was der General (Peter Lorre) sagt, ein Gentleman statt eines Schurken: "Für das Publikum war das schlecht," so Hitch (Truffaut 93).
Ich verstehe, dass die Szene nicht gut in einem Thriller passt. Eigentlich wäre der so ums Leben gebrachte freundliche britische Gentleman namens Caypor (Percy Marmont, der später in Young and Innocent den Vater der Heldin spielen wird) der perfekte Thriller-Held, da das Ungeheuerliche unerwartet in sein Leben bricht und er, hätte er nur überlebt, den nötigen Suspense und die erforderliche Angstlust im Angebot gehabt hätte (siehe die Thriller-Definition im Beitrag zu The Man Who Knew Too Much). Der Film bricht hier gewisse Regeln (wie auch, soviel sei schon gesagt, der Folgefilm Sabotage). Man merkt Secret Agent die episodenhafte Vorlage an und so bleibt Caypor eben nur eine Episode, eine mit grausamem Witz, eine Episode mit bitterer Ironie: Denn er muss sterben, weil ihm zum falschen Zeitpunkt ein Knopf am Jackett fehlte.
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Der Sarg ist leer, die Trauerzeremonie für den Schriftsteller nur inszeniert, der einarmige Bestatter für den grotesken Slapstick verantwortlich: Ironie von der ersten Sekunde an |
Dabei bereitet Hitchcock sein Publikum von der ersten Szene an auf diese sehr harte Ironie vor. Da sehen wir Ashendens "Beerdigungsfeier", Trauergäste um den aufgebahrten Sarg. Nach dem Ende der Zeremonie zeigt Hitchcock, wie "ein einarmiger, mit Orden dekorierter Butler die Flagge vom Sarg zieht und mit dem Abtransport der leeren Kiste zu kämpfen hat. Ein kurzer, schwarzhumoriger Slapstick-Spaß" (Pauli 284). Das Zeremoniell ist das Gespielte. Echt ist nur das Groteske.
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Der MI6 bringt Paare besser zusammen als Tinder... Am Ende quittieren die frisch verheirateten Ashendens ihren Dienst per Brief an den MI6: "Never again". |
Wobei auch das nur bis zum Ende korrekt ist. Grotesk ist die gespielte Ehe zwischen Gielguds Ashenden und Madeleine Carrolls Elsa nur zu Beginn, wenn sie sich den Eheschwur geben, nachdem sie gegenseitig ihre Pässe untersucht haben. Hitchcocks matrimonialer Konservatismus gewinnt gegen Ende die Überhand und die Scheinehe zwischen Gielgud und Carroll (letztere weniger überzeugend als noch in The 39 Steps) wird zu einer wahren Ehe. Das Groteske ist echt, aber wo es um Ehe geht zählt nur Authentizität.
Inhaltsangabe zu Secret Agent
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Szenen einer "Ehe": Gleich zu Beginn dieser Schein-Ehe ohrfeigen sich die beiden Geheimagent*innen gegenseitig: "Die Ehe hat angefangen," sagt Madeleine Carroll zu John Gielgud |
Fazit:
Secret Agent war noch nie mein Lieblingsfilm aus dieser Phase von Hitchcocks Schaffen und dennoch bleiben viele Szenen in Erinnerung. Es sind bestimmt 20 Jahre vergangen zwischen meiner ersten Begegnung mit diesem Film Anfang/Mitte der 1990er und dem zweiten Anschauen. Und doch konnte ich mich noch an viele Szenen erinnern, wie etwa der Kauf einer Tafel Schokolade durch einen alten bärtigen Schweizer, der die Schokolade auspackt, in den Mülleimer wirft und dann die auf der Verpackung verborgene Geheimbotschaft liest (als jungem Menschen muss mir die Vernichtung einer Tafel Schweizer Schokolade wie ein Sakrileg vorgekommen sein).
Oder die Szene in der Kirche, durch die sich ein dumpfer Orgelton zieht, bis nach 2-3 Minuten die Hauptfiguren entdecken, dass die Leiche ihres Kontaktmannes tot auf der Orgel liegt und so den Ton erzeugt. Oder auch die an den Heimatfilm erinnernde Szene mit dem Volkstanz, bei dem einige Frauen im Trachtenkostüm eine Emaille-Schale schwenken, in der eine Murmel entlangrollt und so einen scheinbar hypnotischen Ton erzeugen.
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Schweizer Schüsseltanz. Ist das wirklich Brauchtum oder hat sich Hitchcock die Schüssel, in der eine Kugel gerollt wird, nur ausgedacht? |
Kurz: Hitch hatte dieses Mal nicht ganz unrecht mit seiner Selbsteinschätzung, dass Secret Agent "voll von Ideen" gewesen sei, "aber im Ganzen etwas missglückt" (Truffaut 93). Die Ideen bleiben haften, man wird nur nach einiger Zeit Schwierigkeiten haben, sich zu erinnern, wie diese einzelnen Szenen und kreativen Ideen genau zusammenhingen.
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Kein Agenten-Thriller ist komplett ohne eingeblendete Landkarten |
Und dann ist da John Gielgud, der als Ashenden nicht überzeugen kann, weil die Rolle so wenig hergibt. Laut Spoto hatte er gerade erst erfolgreich Hamlet auf der Bühne gespielt und Hitchcock ihm die Rolle des Ashenden wohl als modernen Hamlet verkauft, "a man forced to make a number of difficult decisions" (Spoto, n.pag.). Die moralischen Entscheidungen stimmen, ja, aber in einem Thriller von 86 Minuten lässt sich nicht im Ansatz das entwickeln, was Shakespeare im längsten seiner Stücke (4.024 Textzeilen, was ca. 3,5 Stunden Spielzeit ergibt) erreicht. Und so bleibt der große John Gielgud blass ("He seems scared of Hitchcock’s camera," schreibt Kritiker Dan Callahan [68]).
Mehr noch, Gielgud wird von Nebendarsteller Peter Lorre an die Wand gespielt (Gielgud bezeichnete Lorre als "great scene-stealer" [zit. in Callahan 69]). Lorre ist, wie schon in The Man Who Knew Too Much, in Hochform und bringt die perfekte ironische Mischung aus tödlichem Ernst (er ist der Vollstrecker des MI6) und alberner Hanswursterei (er ist der haarlose Mexikaner, weil er Locken hat und kein Mexikaner ist). Auch wenn aus heutiger Perspektive Lorres Rolle als "Der General" nicht ganz unproblematisch ist – der General ist Sexist, Narzisst, Rassist und sicher noch einiges mehr – will man ihm bei seinen Wutausbrüchen und Eskapaden einfach nur wieder und wieder zuschauen. Das alles ist unfassbar brillant.
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Schweizer Alpenpanorama, die Kirche im Zentrum wird zum Tatort: Jemand hat den Organisten ermordet |
Und auch die Schweiz selbst ist interessanter als die Figur Ashendens. Die Schweiz spielt eine große Rolle für den Plot: "Es muss wirklich mehr als bloßer Hintergrund sein," sagte Hitchcock dazu: "Man muss versuchen, alle diese lokalen Gegebenheiten [der Schweiz] in das Drama einzubauen. Die Seen müssen da sein, damit Leute darin ertränkt werden, und die Alpen, damit sie in Schluchten stürzen" (Truffaut 94). Das ist visuell sehr schön.
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7 Messer für Secret Agent |
Lange Rede kurzer Sinn: Der Film ist schön, zuweilen spannend, oft grotesk, bitter ironisch und durch den überragenden Lorre etwas Besonderes, so dass ich ihm 7 Messer gebe. Kein großer Wurf, sondern ein großer Film, der aus vielen kleinen Würfen besteht. Nun aber auf zu Sabotage, dem Film, der auf dem Roman Secret Agent basiert.
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Alle 11 Sekunden verliebt sich ein Single. Diese zwei Eheleute haben sich vor 11 Sekunden kennengelernt. Der MI6 macht's möglich! |
Films Cited (chronologisch)
- The Man Who Knew Too Much (dir. Alfred Hitchcock) (1934)
- The 39 Steps (dir. Alfred Hitchcock) (1935)
- Secret Agent (dir. Alfred Hitchcock) (1935)
- Sabotage (dir. Alfred Hitchcock) (1936)
- Young and Innocent (dir. Alfred Hitchcock) (1937)
- The Lady Vanishes (dir. Alfred Hitchcock) (1938)
Works Cited (alphabetisch)
- Callahan, Dan. The Camera Lies: Acting for Alfred Hitchcock. Oxford: Oxford University Press, 2020.
- Pauli, Harald. "Secret Agent (1935)". In: Lars-Olav Beier und Georg Seeßlen (Hg.): Alfred Hitchcock. Berlin: Bertz Verlag, 1999: 283-286.
- Spoto, Donald. The Dark Side of Genius: The Life of Alfred Hitchcock. Little Brown, 1983.
- Truffaut, François. Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? 1966. Übers. v. Frieda Grafe und Enno Patalas. 2. Auflage. München: Heyne, 2003.
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