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Hitchcock #008: Champagne (1928), oder: "Der absolute Tiefpunkt meiner Karriere"

In Hitchcocks Champagne wird viel Champagner getrunken: Prost! 

Hitchcock-Biograf Donald Spoto schreibt, dass Hitch während der Dreharbeiten zu Champagne "severely depressed" gewesen sei und dass die Arbeit an dem Film einer der seltenen Momente in seinem Leben gewesen sei, "that he became enraged on the set and shouted at his crew". Auch ließ er, Michael Powell zufolge, keine Standbildfotografen ans Set dieses Films; als sich eines Tages doch einer dorthin verirrte, reagierte Hitch genervt: "[Hitchcock] would stumble and kick over the tripod of the clumsy eight-by-ten stills camera, which went down with crash" (Powell 185). Erst Powell (von dessen Kongenialität Hitchcock zu diesem Zeitpunkt nichts wissen konnte) gestattete er einige Standbildfotografien von den Dreharbeiten zu Champagne.

Flapper: Betty Balfour darf als die Tochter ihr komisches Talent beweisen

Hitchcock selbst bezeichnete Truffaut gegenüber den Film Champagne als "absoluten Tiefpunkt meiner Karriere" (50). Und auch die Kritik nahm den Film ziemlich ungnädig auf. Die zeitgenössische Kritik bezeichnete ihn als "champagne that had been left in the rain all night" (zit. in Spoto). Die spätere Kritik sah in Champagne "eine leichthin erzählte triviale Liebesplotte, die sich um Wahrscheinlichkeiten nicht schert, geschweige denn um Spannung" (Jacobsen 245) sowie "his worst feature film" (Yacowar 58). Unbeirrt von Kritiken und Hitchcocks Selbsteinschätzung sah Truffaut mit der ihm eigenen Scharfsichtigkeit mehr in dem Film: "Ich finde, Sie sind ungerecht," sagte er zu Hitch, "ich habe mich sehr amüsiert, als ich ihn gesehen habe. Man muss oft an Komödienszenen bei Griffith denken, es ist sehr lebendig. [...] Der Film ist voller Gags" (Truffaut 50-51).

Die Dreharbeiten, derart überschattet von Hitchcocks Unwillen, begannen im Februar 1928. Doch das Drehbuch war zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellt, wie Kameraassistent Alfred Roome später schrieb: "They didn't have a whole script. They wrote it on the back of envelopes on the way to the studio. You never knew what was going to happen" (zit. in McGilligan). So hatte sich Hitchcock seine Arbeit für British International Pictures sicherlich nicht vorgestellt. 

Eine mehrminütige Sequenz zeigt, wie der Verehrer Betty zunehmend bedrängt... aber fürchtet Euch nicht, es war alles nur ein Traum (ja, wirklich, das hat Hitchcock echt gebracht)

Ich muss zugeben, dass ich dem Film mehr abgewinnen konnte, als Hitchcocks Stummfilmen wie The Ring oder Farmer's Wife. Er hat einige interessante Momente (und natürlich eine ganze Reihe an Schwächen). Ich versuche also, das Biografische und Anekdotische zu ignorieren, das vielen Kritiker*innen als Ausrede dient, um nicht über den Film Champagne selbst schreiben zu müssen (wenngleich es viele interessante Anekdoten gibt, etwa die, dass bei Champagne ein sehr junger Mann mitarbeitete, der später selbst zu einem berühmten Regisseur werden sollte, Michael Powell, und Meisterwerke wie The Red Shoes oder Peeping Tom drehen würde, einen Film, der oft mit Vertigo verglichen wird)

Inhaltsangabe von Hitchcocks Champagne (1928)

Ein junges Mädchen (Betty Balfour, oder, wie Michael Powell schrieb, "England's ersatz Mary Pickford" [185]) ist mit dem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen: Ihr Vater (Gordon Harker) ist mit der Herstellung von Champagner reich geworden (wie ein paar Jahre vor ihm Felix Krulls Vater bei Thomas Mann). Sie liebt das Abenteuer und führt ein lasterhaftes (und kostenintensives Leben). Da teilt ihr der Vater mit, dass er pleite sei und sie sich fortan einschränken müssten. Das Mädchen versucht sich am Leben einfacher Leute. Dann arbeitet sie in einem Tanzlokal, wo sie auf zwei rivalisierende Liebhaber aus ihrem früheren Leben trifft (Ferdinand von Alten und Jean Bradin). Das Ganze führt über zwei Szenen verteilt zu einem Streit, der nur durch das Eintreffen des Vaters beigelegt werden kann: Er hat sein Vermögen gar nicht verloren, er ist immer noch reich, alles war nur eine Probe für seine Tochter und der eine Liebhaber war ein guter Familienfreund, der auf die Tochter aufpassen sollte. Sie plant die Hochzeit mit dem anderen Mann. Ende.

Das Ganze ist die alte "teach her a lesson"-Geschichte, wie wir sie aus Shakespeares Taming of the Shrew kennen. Eine lebensfrohe und unabhängige Frau wird durch Gaslighting gefügig gemacht und "gezähmt", damit sie in die patriarchale Weltordnung passt. Die Verbindung dieses Motivs mit der vorgetäuschten Verarmung kennen wir in ähnlicher Form wiederum aus Dickens letztem Roman, Our Mutual Friend. Nichts daran ist neu, nichts daran ist akzeptabel. Der Plot ist mal wieder die Schwachstelle in diesem Hitchcock-Stummfilm. Hitchcock erzählt Truffaut, dass er eigene Vorstellungen von der Geschichte hatte, nachdem ihm das grobe Thema genannt worden war. Aber was Walter C. Mycroft schließlich ablieferte, war dann nur noch seicht. Man versteht die Übellaunigkeit des Regisseurs. Das Drehbuch ist billiger Sekt aus dem Tetrapak, kein Champagner. 

Cinematografie in Champagne

Ich hatte versprochen, dem Film auch Gutes abzugewinnen. Das Gute liegt nicht so sehr in seinem Was, sondern in seinem Wie. Zunächst das Offensichtliche: Hitchcock wäre nicht Hitchcock, wenn er nicht auch in Champagne durch irgendein absurdes Objekt hindurchgefilmt hätte. Hier sind es natürlich Champagner-Gläser. Und zwar zwei Mal. Zu Beginn des Films durch das Glas des Vaters (YouTube). Zum Ende durch das des väterlichen Freundes (YouTube). Beide Male wird auf die Tochter mitsamt Liebhaber geschaut. Hitchcocks Enttäuschung über den Film scheint so groß gewesen zu sein, dass er nicht hat widerstehen können, das zweite Mal mit einem sinistren Blick des Freundes und einem kurzen unruhigen Blick Bettys zu versehen, so als wäre er doch nicht so freundlich, wie der Vater denkt. Viel Sinn ergibt das an diesem Punkt der Geschichte nicht, es ist ein billiger Trick, wie aus einem 80er Jahre-Horror-B-Movie. Leider. Auch wenn die Szene durchaus ihre Fans hat (siehe hier, ca. 38:12).

Links schaut der Vater zu tief durchs Glas, rechts der väterliche Freund. Ihr Blick auf Bettys Liebesleben ist im wahrsten Sinne des Wortes... vom Alkohol "getrübt"

Es gibt einen freeze frame, also einen Moment, in dem das Kamerabild "einfriert", was Hitchcock dann verwendet, um zu einem gerahmten Foto überzublenden, das diesen Moment und dann das sehnsüchtig verklärte Gesicht des Mädchens zeigt, das sich an den Abend erinnert (siehe hier). Man liest, dass es der erste freeze frame der Geschichte gewesen sei. Das kann gut sein (oder es ist einer der typischen filmhistorischen Mythen, von denen es so viele gibt und die immer ungeprüft übernommen werden). Das ist technisch nicht besonders eindrucksvoll und leider auch nicht so sorgfältig ausgeführt, wie man es sich wünschen würde. Aber: Frühes Kino... 

Zack, da ist die Tasche weg: Der Diebstahl wird nur von der Hüfte abwärts gefilmt

Es gibt einen Diebstahl, den Hitchcock nur von der Hüfte abwärts filmt (ein invertierter medium shot, sozusagen). Es ist ein retardierendes Moment: Das Mädchen ist bereits vermeintlich pleite, will aber die verbliebenen Juwelen verpfänden, um Geld für sich und ihren Vater zu bekommen. Auf der Straße werden ihr die Juwelen jedoch gestohlen. Ob dies im Auftrag des Vaters geschah (das wäre nur logisch) oder ein Zufall war (das wäre furchtbar beliebig): Es verzögert nur das Unvermeidliche, Betty muss sich mit einem Leben in Armut abfinden. Entsprechend nonchalant geht Hitchcock mit der Szene um: Keine Gesichter, keine Emotionen, keine Zwischentitel. Nur Beine und eine Tasche. 

Nein, das ist nicht der Frosch mit der Maske aus den Edgar Wallace-Filmen. Es ist Betty, die mal eben ein Flugzeug im Ozean landet (und versenkt), damit sie das Luxusschiff noch kriegt, auf dem ihr Geliebter ist

Visuell am beeindruckendsten ist jedoch fraglos die Eröffnungssequenz: Da landet Bettys Flugzeug im Meer, damit sie das Schiff noch kriegt, auf dem ihr Geliebter ist. Das Flugzeug säuft ab, eine freie Kabine wird noch gefunden. Hier ist der Link zur ganzen Sequenz. Insbesondere die gemalte Leinwand, die das nächtliche Meer darstellen soll und die ein paar Mal erkennbar flattert hat es mir angetan. Sie deutet voraus auf die monumentalen (und grotesk statischen) Rückprojektionen in Hitchcocks späteren Filmen (die Ski-Fahrt von Gregory Peck und Ingrid Bergman in Spellbound ist sicherlich eins der prominentesten Beispiele). Auch ist bemerkenswert, dass Hitch dafür sogar das Studio verließ (er schätzte Außenaufnahmen nicht besonders). Die Szene wurde in Southampton gedreht, wie die Daily News am 30.5.1928 berichtete.

Ich mag, dass Hitchcock viel versucht. Nur, weil er Hitchcock ist, gelingt ihm natürlich nicht alles. Und sein Misslingen hat eine heitere Frische. So tritt Betty einmal vor die Tür, sieht ihren Vater, läuft auf ihn zu und küsst ihn. Dabei läuft die Schauspielerin ganz nah an die Kamera heran, küsst die Kamera, Schnitt, man sieht den Mund des Vaters in der Nahaufnahme, auch er macht einen Kuss, die Kamera fährt wieder zurück. Lustig, aber kaum gelungen (YouTube).

Seekranker Mann sieht gleich drei Bettys

Ach ja, und kein früher Hitchcock-Film wäre komplett ohne mindestens eine Doppelbelichtung. Champagne hat mehrere davon. Die erste natürlich die Verdoppelung von Bettys Gesicht, wenn ihr seekranker Freund alles doppelt und dreifach sieht (YouTube). Das reiht sich ein in die Serie von Männer-sehen-Frauen-in-Doppelbelichtungsbildern (Pleasure Garden: Die ermordete Frau; Downhill: Die (un)geliebte Frau; Farmer's Wife: Die (un)begehrte(n) Frau(en) usw.). Es ist ein Stilmittel des Stummfilms. Und 1928 bereits ein bisschen schal geworden (wie der Champagner, den man nachts im Regen hat stehen lassen). Der Tonfilm wird die Beliebtheit dieses Stilmittels recht bald beenden und darum ist es nicht schade... 

Was der Tonfilm in den ersten Jahren hingegen wieder einsperren wird ist die Kamera. Die ist in Champagne sehr oft "entfesselt". Die Lautstärke der Kameras machte es nötig, diese beim Tonfilm in schallgeschützten Boxen aufzubewahren, was deren Mobilität einschränkte. In diesem Film hat man beinahe das Gefühl, dass die Kamera völlig frei ist, so oft bewegt sie sich - und das sehr subtil (hier ein Beispiel).

Fazit

Ist Hitchcocks Champagne ein guter Film? Nein, sicher nicht. Ist er so schlecht, wie alle sagen? Nein, ebenfalls nicht. Ich gebe ihm daher auch ein Messer mehr, einfach nur, um gegen seinen schlechten Ruf anzugehen. Er hat seine Momente und dafür lohnt er sich tatsächlich. Er ist nicht so vorhersehbar wie Farmer's Wife oder so beliebig in seiner Erzählung vom Fall eines Kindes aus gutem Hause wie Downhill. Die Eröffnungsszene mit dem Champagnerglas und dem Flugzeug im Meer sind sehr imposant und führen sofort in das Geschehen ein (anders als viele der anderen Stummfilme, die etwas schleppend in die Gänge kommen). 

Flapper Betty ist ganz gut in ihrer Rolle und keinesfalls das "piece of suburban obscenity", das Hitchcock laut Michael Powell in der Schauspielerin sah (Powell 185). Gordon Harker darf in seinem dritten und letzten Film für Hitch zeigen, dass er auch mehr kann, als nur den Trunkenbold zu spielen wie in The Ring und in Farmer's Wife. Sein Vater hat Stil, Charme und eindeutig keine Ahnung von Erziehung. 

Es dauert eine Weile, bis man versteht, wohin der Plot sich entwickelt. Es gibt ein oder zwei überraschende Wendungen in dieser ansonsten recht banalen Geschichte. Keine Frage: Es gibt bessere, es gibt aber auch bedeutend schlechtere Filme. Daher 3,5 aufgerundete Messer für Champagne.

Films Cited/Mentioned (in chronologischer Reihenfolge)

  • Pleasure Garden (dir. Alfred Hitchcock) (1925)
  • Downhill (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
  • The Ring (dir. Alfred Hitchcock) (1928)
  • The Farmer's Wife (dir. Alfred Hitchcock) (1928)
  • Champagne (dir. Alfred Hitchcock) (1928)
  • Spellbound (dir. Alfred Hitchcock) (1945)
  • The Red Shoes (dir. Michael Powell) (1948)
  • Vertigo (dir. Alfred Hitchcock) (1958)
  • Peeping Tom (dir. Michael Powell) (1960)

Works Cited (alphabetische Reihenfolge)


Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

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Kronshage, Eike. "Hitchcocks Champagne (1928), oder: 'Der absolute Tiefpunkt meiner Karriere'Hitchcock: Rewatch 2022, 02.06.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/06/hitchcock-008-champagne-1928-oder-der.html.

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