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Alice (Anny Ondra) wird vom Clown-Gemälde verhöhnt |
Tonfilm und Stummfilm. Hitchcocks Blackmail wird vorwiegend in diesem Spannungsfeld diskutiert, da er beides ist. Als Stummfilm begonnen, entschied sich das Studio während der Dreharbeiten, einige Szenen als talkie nachzudrehen. Das hatte Hitchcock nach Selbstauskunft schon vorbereitet, so dass es ihm ein Leichtes war, zu liefern: Den ersten britischen Ton-Spielfilm.
Die tragische Fußnote: Der Beginn des Tonfilms bedeutete das Ende der internationalen Kollaborationen. Schauspieler*innen kamen in der Stummfilmzeit aus unterschiedlichen Ländern: Aus Dänemark (Carl Brisson), aus Deutschland (Bernhard Goetzke, Ferdinand Martini), Frankreich (Jean Bradin), den USA (Virginia Valli, Carmelita Geraghty) oder Tschechien (Anny Ondra). Wie gut sie Englisch (bzw. britisches Englisch) sprachen war im Stummfilm natürlich unerheblich, da sie nicht zu hören waren. Man konnte ihnen also die Englishness abnehmen. Mit dem Tonfilm erfuhr diese Praxis ein jähes Ende. Das erste Opfer war Anny Ondra, deren starker Akzent sie für "englische" Rollen disqualifizierte (Hitchcock gab Truffaut gegenüber fälschlicherweise an, "Ondra sprach kaum Englisch" [Truffaut 57], was nachweislich nicht stimmt). Ondra kehrte nach Deutschland zurück (heiratete den Boxer Max Schmeling, gründete die Ondra-Lamač-Film GmbH, drehte und produzierte Filme, bei denen sie z.T. Szenen aus Hitchcocks Filmen übernahm, wie ich an anderer Stelle belegt habe, am Beispiel ihres Edgar Wallace-Films Der Zinker [1931]).
Der Tonfilm beendete den internationalen Einsatz von Schauspieler*innen über Nacht.
Blackmail war aber schon mitten in den Dreharbeiten. "Ich ahnte aber schon, dass die Produzenten ihre Meinung ändern würden", sagte Hitchcock zu Truffaut, "und dass sie einen Tonfilm brauchten, deshalb hatte ich mich auf alles eingestellt. Ich habe die Technik des Tonfilms angewandt, aber ohne Ton. So konnte ich mich, als der Film fertig war [...] einige Szenen noch einmal drehen." (Truffaut 56-57). Hitch drehte also eine Handvoll Tonszenen mit Ondra nach, während eine britische Schauspielerin, Joan Barry (die später in Hitchcocks Rich and Strange spielen sollte), abseits des Bildes am Mikrofon stand und die Texte einsprach. An manchen Stellen kann man, wenn man genau hinschaut, feststellen, dass Ondras Texte nicht ganz lippensynchron sind: "The awkwardness has its own fascination," schreibt Kritiker Dan Callahan und erläutert diese Dissonanz von Körper und Stimme wie folgt: "Neither the look of Ondra nor the sound of Barry is suitable for [the role of] Alice White, who is supposed to be working class and torn between wanting sex and adventure and repressing that instinct in herself, which gets her into a lot of trouble" (2020: x).
Ich möchte diesen "Disconnect" (Callahan) von Stimme und Körper als Ausgangspunkt nutzen, um weiter unten den Film als eine Art Gegenstück zu Hitchcocks Psycho zu lesen, ein Film bei dem Normans Körper und Mutters Stimme auch von Zeit zu Zeit eigentümlich disconnected sind.
Aber zunächst eine kurze Inhaltsangabe.
Inhaltsangabe von Hitchcocks Blackmail (1929)
Alice White (Anny Ondra), die Verlobte eines Scotland Yard-Beamten (John Longden), flirtet mit einem Künstler und geht mit diesem in sein Atelier. Dort wird der Künstler zudringlich und versucht, Alice zu vergewaltigen. Sie greift panisch zu einem herumliegenden Messer und tötet den Künstler. Frank, ihr Verlobter, ermittelt in der Sache und versteht schnell, dass seine Alice die Täterin gewesen sein muss. Ein Zeuge versucht, sie zu erpressen. Doch am Ende ist dieser Zeuge selbst der Gejagte (erpresse besser nie einen aufrechten Polizisten) und wird von halb Scotland Yard durch London gehetzt. Er versucht, sich im British Museum zu verstecken, wird aber entdeckt. Noch bevor er Alice verraten kann, stürzt er versehentlich (Vertigo lässt grüßen) in seinen Tod. Jetzt ist alles wieder gut. Happy End.
Hitchcocks Blackmail als Vorläufer zu Psycho?
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In Psycho hört Marion Crane (Janet Leigh) die Stimme von "Mutter" aus dem Jenseits |
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Alice (Anny Ondra) nach der Tat, das Messer in der Hand. Der rechte Arm des Toten scheint ihren Oberschenkel zu berühren (Screenshot aus der Stummfilm-Fassung von Blackmail) |
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Links: Norman verwischt die Spuren. Rechts: Alice verwischt die Spuren. Beide benutzen Fransen/Borsten am Ende eines Holzstils (Wischmopp/Pinsel) |
Auch nimmt Hitchcock sich unendlich viel Zeit, den langen Schock nach der Tat zu filmen. Norman muss sich beinahe übergeben, bevor er, gehorsamer Sohn der er ist, das Bad penibel zu reinigen beginnt. Alice reinigt gewissermaßen den Tatort, beseitigt, wie Norman, alle Spuren. Normans Wischmopp, ein Stil mit Fransen, erinnert an Alices Pinsel, mit dem sie ihren Namen auf einer Leinwand übermalt: Auch ein Stil mit Fransen/Borsten am Ende. Im Schwarzweiß-Bild erinnert der dunkle Pinselstrich auf weißer Leinwand an die dunklen Blutschlieren auf den weißen Fliesen in Psycho.
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Links: Marions tote Hand (Psycho). Rechts: Die tote Hand des Künstlers (Blackmail) |
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Psycho: Norman beobachtet Marion heimlich beim Ausziehen |
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Auch in Blackmail gaffen Männer unerlaubt, wenn Frauen sich ausziehen |
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Die letzte Einstellung in Psycho und Blackmail: Ein diabolisches, verhöhnendes Grinsen mit Blick direkt auf die Zuschauer*innen |
Cinematografie in Blackmail
Es dauert ganze 8 Minuten, bevor in diesem Film gesprochen wird. Das wird einem besonders deutlich, wenn man die Movies for the Blind-Serie anhört, die Filme für Seheingeschränkte aufbereitet und alles Visuelle von einer Erzählstimme berichten lässt. Da wird am Anfang wirklich sehr viel erzählt, bevor die Dialoge kommen.
Unmittelbar nach dem Mord sitzt Alice mit ihrer Familie beim Essen. Die Familie unterhält sich, das Wort "knife" (Messer) kommt in ihrer Unterhaltung immer wieder vor. Es verdrängt den Rest des Gesprächs, bis Alice nur noch "knife, knife, knife" hören kann und dann ein Messer, das auf dem Tisch liegt fallenlässt. Der Vater entgegnet, sie solle aufpassen, damit hätte sie ja jemanden töten können. Dieser Einsatz von Ton ist beachtlich, nicht nur für den allerersten britischen Tonfilm, sondern für Tonfilm überhaupt.![]() |
Verfolgungsjagd am Ende von Blackmail mit Schüfftan-Verfahren: Spiegeltrick zur Kombination von zwei Bildern |
Bei der Verfolgungsjagd am Ende des Films setzte Hitchcock das Schüfftan-Verfahren ein. Und zwar ohne den Produzenten davon zu erzählen: Die kannten es nicht und hätten vielleicht die Erlaubnis entzogen (siehe Truffaut 58). Das Verfahren war nur kurz zuvor in Deutschland von Eugen Schüfftan und Ernst Kunstmann entwickelt worden. Im Grunde ist es ein sehr einfacher Spiegeltrick, der schon in den 1860er Jahren als "Pepper's Ghost" zum Einsatz kam und bereits in der Renaissance theoretisch beschrieben worden war. Im Schüfftan-Verfahren wird von der Kamera ein Spiegelbild abgefilmt. In diesem Spiegel spiegelt sich ein kleineres Modell oder ein Foto (siehe Truffaut 58) der benötigten Kulissen (das ist kostensparend, da durch die Position des Modells auch der Eindruck sehr großer Kulissen mit kleinen Modellen oder einfachen Fotos erweckt werden kann). Vorher kratzt man auf der Spiegelfläche die dunkle Spiegelschicht aus, so dass die Kamera filmen kann, was dahinter liegt (i.d.R. die Darsteller*innen).
So werden zwei Bilder eindrucksvoll kombiniert (wenngleich der offensichtliche Nachteil des Schüfftan-Verfahrens seine Statik ist, man kann die Kamera nicht bewegen, da das die zuvor penibel aufeinander abgestimmten Verhältnisse von Modell und Spiegel verändern würde; aber statische Bilder stellen im Stummfilm ohnehin die Norm dar). Das Verfahren hatte zuvor Fritz Lang in Metropolis eindrucksvoll eingesetzt.
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Die laute Kamera muss bei den Tonaufnahmen in diese Kiste. Eine Einschränkung für die frisch "entfesselte" Kamera |
Auch wurde die Kamera wieder gefesselt, zumindest für eine Weile. Weil die Kameras laut ratterten und es noch keine Synchronisierung gab, mussten die Apparate zunächst in schalldichte Kästen verlagert werden. Das fällt in Blackmail besonders auf. Die stummen Szenen gleich zu Beginn sind derart entfesselt, dass man vergisst, dass 1929 der Standard immer noch statische Bildkompositionen waren und Bewegung, auch bei Hitchcock, nur in geringem Maße erfolgte. Hier fährt die Kamera neben einem Auto her, verfolgt die Polizisten durch die Flure und die Treppen hinauf. Später aber, wenn geredet wird, ruht die Kamera meistens. Die Szenen mit Ton wirken paradoxerweise am meisten wie Stummfilme.
Fazit
Films Cited/Mentioned (in chronologischer Reihenfolge)
- The Lodger (dir. Alfred Hitchcock) (1927)
- Metropolis (dir. Fritz Lang) (1927)
- The Manxman (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
- Blackmail (dir. Alfred Hitchcock) (1929)
- Der Zinker (dir. Carl Lamač und Martin Frič) (1931)
- Rich and Strange (dir. Alfred Hitchcock) (1931)
- The Lady Vanishes (dir. Alfred Hitchcock) (1938)
- Rear Window (dir. Alfred Hitchcock) (1954)
- Vertigo (dir. Alfred Hitchcock) (1958)
- Psycho (dir. Alfred Hitchcock) (1960)
Works Cited (alphabetische Reihenfolge)
- Callahan, Dan. The Camera Lies: Acting for Alfred Hitchcock. Oxford: Oxford University Press, 2020.
- Mulvey, Laura. Visual and Other Pleasures. 2nd ed. Palgrave Macmillan: 2009.
- Rohmer, Eric; Chabrol, Claude (1979): Hitchcock. The First 44 Films. New York: Ungar.
- Rother, Rainer. "Blackmail (1929)." In: Lars-Olav Beier und Georg Seeßlen (Hg.): Alfred Hitchcock. Berlin: Bertz Verlag, 1999: 252-255.
- Truffaut, François. Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? 1966. Übers. v. Frieda Grafe und Enno Patalas. 2. Auflage. München: Heyne, 2003.
Kronshage, Eike. "Hitchcocks Blackmail (1929), oder: Psycho avant la lettre." Hitchcock: Rewatch 2022, 10.06.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/06/blackmail-psycho-avant-la-lettre.html.
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