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Hitchcock: Die verlorenen Filme (1920-1925)

Verbrannte Nitrofilm-Rollen

Die Frühgeschichte des Kinos als eine Geschichte des Verlustes

Das Kino im heutigen Sinne wurde 1895 geboren, als die Brüder Lumière in Paris ihren in Lyon gedrehten Film La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon (Arbeiter verlassen die Lumière-Werke) (hier auf YouTube zu sehen) zeigten. Schnell entwickelte sich das Medium zu dem zentralen Massenunterhaltungsmedium. Jedes Jahr stieg die Zahl der gedrehten Filme. Und dennoch haben wir aus der Pionierzeit des Films nur sehr wenige Filme, die erhalten geblieben sind. Das Lost Films-Archive listet über 3.500 Einträge von Filmen, die vollständig verloren sind und allgemein wird angenommen, "dass etwa 80 Prozent aller Stummfilme verschollen oder endgültig verloren sind" (Wikipedia "Verschollener Film").

Ich selbst habe für einen Fachartikel zu Edgar Wallace-Verfilmungen versucht, einen Film aufzuspüren, der als verschollen gilt und musste am eigenen Leib erfahren, wie schwierig das ist. Nach etwa zwei Dutzend Telefonaten und langen Recherchen in europäischen Filmarchiven musste ich die Suche schließlich erfolglos aufgeben. Dazu kommt, dass der von mir damals gesuchte Film "nur" von 1927 war. Die Archive gaben daher meiner Suche eine geringe Dringlichkeitsstufe. Denn insbesondere ältere Filme sind auf Zelluloid gespeichert und dieses Material ist explosiv und brennbar. In seinem Film Sabotage (1936) wird Hitchcock einen Jungen mit zwei Filmrollen in einen Londoner Bus steigen lassen, woraufhin der Kontrolleur ihn darauf hinweist, dass Filme im Bus verboten seien: "They are flammable", sagt er (mit bitterer Ironie, da die Filmdosen in Wahrheit eine Bombe enthalten). 

Feuergefährliche Filme sind an Bord der Londoner Busse verboten. Hitchcock, Sabotage (1936)

Es kann also nur aufwändig rekonstruiert werden, seine Lagerung ist nicht ohne Risiko und es ist letztlich ein Kampf gegen die Zeit, da Nitrofilme zunehmend verfallen (siehe das Titelbild dieses Beitrags). Die chronisch unterbesetzten und unterfinanzierten Filmarchive tun was sie können, um diese Schätze für die Nachwelt zu sichern. Klar, dass mein 1927er-Film da am hintersten Ende der Prioritätsliste gelandet ist.

Hitchcock bewirbt sich bei Famous Players-Lasky
(Detail aus Noël Simsolos Hitchcock-Comic

Nun ist auch Hitchcocks frühes Werk nicht verlustfrei auf die Nachwelt gekommen. Hitch fing 1920 an, für den Film zu arbeiten. Als seine erste eigenständige Regiearbeit gilt aber heute The Pleasure Garden (dt.: Irrgarten der Leidenschaft) von 1925. Bei den Filmen, die in den fünf Jahren zwischen 1920-25 entstanden, saß Hitch nicht im Regiestuhl (mit Ausnahme des Films Number 13 von 1922, der aber nicht vollendet wurde und der heute als verloren gilt - und über den Hitch selbst nicht gerne redete: "Wirklich, es war nicht sehr gut" sagt er zu Truffaut [25]).

Hitchcock über seinen ersten Film Number 13
(Detail aus Noël Simsolos Hitchcock-Comic

Hitchcock selbst erzählte, dass er zuerst "bei einem Film mitgemacht [habe], der hieß Always Tell Your Wife" (Truffaut 25). Der Star des Films, Seymour Hicks, geriet in Streit mit dem ursprünglich vorgesehenen Regisseur Hugh Croise und Hitchcock übernahm. Von den zwei Filmrollen hat nur eine überlebt, so liest man überall. Wo diese Rolle ist, kann ich nicht sagen. Ich glaube nicht, dass dieser Film irgendwo verfügbar ist oder das irgendwer ihn tatsächlich gesehen hat. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Rede von der einen existierenden Filmrolle munter von Webseite zu Webseite abgeschrieben wurde. Wie schnell das passiert, zeigte vor ein paar Jahren der Namens-Hoax beim damaligen Minister Guttenberg (man erinnert sich). 

Auf diesem zufälligen Weg wurde Hitchcock Regieassistent bei Michael Balcon. 1923 arbeitete er mit bei Woman to Woman (dt. Weib gegen Weib) und erstellte das Script und die Kulissen für den Film. Bei den Dreharbeiten lernte er seine spätere Frau, Alma Reville, kennen. Der Film ist ebenfalls verloren und das British Film-Institute (BFI) hat ihn auf seine Liste der 75 meistgesuchten "lost films" gesetzt. Falls Ihr also auf Eurem Dachboden eine Kopie findet... 

Manchmal werden solche verloren geglaubten Filme tatsächlich wiederentdeckt. The White Shadow von 1923 galt lange als verloren, bis er im August 2011 im New Zealand Film Archive wiederentdeckt wurde. Zwar ist der Film nicht vollständig erhalten, aber die Aufnahmen gelten heute als die ältesten erhaltenen Aufnahmen, an denen Hitchcock mitgewirkt hat. Man kann sich den Film auf YouTube ansehen. Kommerziell war er jedoch ein Flop.

Passionate Adventure (dt. Ehe in Gefahr) von 1924 ist der nächste Film an dem Hitchcock mitarbeitete. Es war auch der erste Film, den die neu gegründete Firma Gainsborough Pictures veröffentlichte, die später zahlreiche Hitchcock-Filme veröffentlichen würde. Die einzige existierende Kopie des Films liegt im BFI National Archive - kurioserweise mit deutschen Zwischentiteln. Man kann sich auf der BFI-Seite Szenen aus dem Film ansehen, 

Hitchcock trifft Murnau in Deutschland
(Detail aus Noël Simsolos Hitchcock-Comic

1925 kam Blackguard heraus (dt. Die Prinzessin und der Geiger). Der Film war eine Ko-Produktion mit der deutschen UFA. Während der Dreharbeiten in Deutschland traf Hitchcock Friedrich Wilhelm Murnau, der gerade Der letzte Mann drehte (fraglos einer der besten Filme der 1920er und ein Film, den Hitch sehr bewunderte). Der Film hat überlebt, man kann einige Szenen auf YouTube ansehen. Es ist mir nicht gelungen, den ganzen Film aufzutreiben.

Ebenfalls 1925 kam The Prude's Fall heraus (dt. Seine zweite Frau). Der dt. Wikipedia-Artikel zu Blackguard enthält eine gelehrte Diskussion über die Reihenfolge dieser beiden Filme, falls das jemanden näher interessiert). Die Zeitschrift Variety sprach von "film junk," eine vernichtende Kritik. Es existieren heute nur einzelne Szenen aus dem Film.

1925 war ein sehr produktives Jahr für Hitchcock. Und somit kommt auch der erste Film, bei dem Hitchcock Regie führte und der überlebt hat, in diesem Jahr heraus: The Pleasure Garden (hier auf YouTube), der zeigt, dass auch schon in den 1920ern dt. Verleihtitel richtig cheesy waren: Da hieß er Irrgarten der Leidenschaft. Und als erster erhaltener Hitchcock-Film wird dieser Film einen eigenen Blogpost erhalten.

Films Cited:

  • Arbeiter verlassen die Lumière-Werke (dir. Auguste Marie Louis Nicolas und Louis Jean Lumière) (1895)
  • Number 13 (1923) (dir. Alfred Hitchcock) (unvollendet; verschollen)
  • Always Tell Your Wife (dir. Alfred Hitchcock) (ohne Namensnennung im Vor- und Abspann) (1923)
  • Woman to Woman (dir. Graham Cutts) (1923)
  • The White Shadow (dir. Graham Cutts) (1924)
  • Passionate Adventures (dir. Graham Cutts) (1924)
  • Der letzte Mann (dir. F. W. Murnau) (1924)
  • Blackguard (dir. Graham Cutts) (1925)
  • The Prude's Fall (dir. Graham Cutts) (1925)
  • The Pleasure Garden (dir. Alfred Hitchcock) (1925) 

Works Cited:

[Bildnachweis: "Filmdose mit zersetztem Nitratfilm" von Hansmuller (Lizenz: CC BY-SA 4.0)]

Bildnachweise: Ich bin nicht der Rechteinhaber der hier wiedergegebenen Bilder. Keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Bildzitate nach "fair use"-Regelung. 

Sie möchten diesen Artikel zitieren? Hier ist das Format nach MLA (9th ed.):
Kronshage, Eike. "Hitchcock: Die verlorenen Filme (1920-1925).Hitchcock: Rewatch 2022, 13.05.2022, https://hitchcock22.blogspot.com/2022/05/hitchcock-die-verlorenen-filme-1920-1925.html.

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